Was vom Jahr übrig bleibt: die Achtziger bleiben dauerpräsent, Gitarrenbands gehen so schnell wie sie kommen und der kommende Everybody’s-Darling macht in Post-Dubstep. 

Wenn man sich in ein paar Jahren fragt, was 2010 denn so los war, wird einem vielleicht zuallererst einfallen, dass der „Technics“ tatsächlich nicht mehr hergestellt wird. Lange Jahre war der unverwüstliche Plattenspieler das Alltagsgerät in nahezu allen Clubs der Welt. Und obwohl die gute alte Vinylplatte noch lange nicht ausgedient hat – gar einen zartes Comeback erlebt während die CD unaufhaltsam stirbt – hat sie den Vorteilen der Digitaltracks von der Festplatte nur noch wenig entgegenzusetzen. Professionell „aufgelegt“ wird heutzutage mehrheitlich mit Laptop, was schon deshalb kaum noch zu umgehen ist, weil große Teile relevanter Musik eben auch nur noch – oder zumindest ungleich komplikationsloser – digital erhältlich sind. Immerhin: meist wird noch ein Plattenspieler gebraucht, um die Timecode-Platten abzuspielen, mit denen die gängige DJ-Software gemeinhin am besten gesteuert werden kann. Einher geht naturgemäß eine Neuordnung von DJ-Hierarchie-Kriterien, die Verfügbarkeit von exklusiven Weißpressungen oder Dubplates ist nicht mehr das Insider-Killerkriterium für die DJ-Elite. In Zeiten, in denen sich jeder für weit unter tausend Euro ein komplettes und obendrein mobiles DJ-Equipment für alle Ansprüche zusammenstellen kann und in denen Musik praktisch weltweit gleichzeitig (und, wenn man es darauf anlegt, auch noch frei) verfügbar ist, ist der Job des DJs ebenso demokratisiert worden wie der des – zumindest elektronischen – Musikers.

Durchgesetzt haben sich bei denen vor allem jene mit dem souveränsten Umgang mit den – der Dauertrend war auch 2010 nicht tot zu kriegen – Sounds der Achtziger. All die Caribous, Yeasayers oder James Yuills machen wundervolle Popmusik, feingeistig und poppig, geeignet zum Hören und Tanzen gleichermaßen und sind live meist mit ein paar Kollegen als eine Art „richtige Band“ unterwegs, weil das mit der Alleinunterhalter-Frickelei eben doch nicht so gut aussieht. Letztendlich jedoch bleibt kaum mehr etwas Überraschendes bei den nicht endlos zu variierenden melodischen Synthiesounds, den zarten Gesangslinien und den mehr oder weniger konkreten Beats. (Wo es am Ende – wenn die Ironie, die das alles erträglich macht, verbraucht ist – wirklich landet, konnte man in diesem Jahr auch sehen: So beinhart reaktionär agierten die anfangs noch als Geheimtipp gehandelten Hurts, dass es locker zum potenziellen Schwiegermutter-Lieblingsalbum reichte.)

Immer noch um Lichtjahre spannender waren die Electropopper allerdings, als die Kohorten von hibbeligen Indiebands, die im Jahr sechs nach Bloc Party im Akkord durch die Hipster-Blogs gereicht wurden. Musikalische Innovation suchte man bei den Gitarrenträgern vergeblich, daran ändert auch der triumphale Durchmarsch der Arcade Fire wenig, die quasi auf Ansage das Album des Jahres hinlegten – zumindest für diejenigen, die der Mehrheitsmeinung folgen mögen. Wirklich spannend wurde es wieder nur im Dubstep, der in diesem Jahr am Scheideweg angekommen scheint.

Es ist eine Art Déjà-vu, zumindest für jene, die schon lange genug dabei sind, um den Hype um Drum & Bass mitbekommen zu haben. Runde anderthalb Jahrzehnte ist das her, der damals beschworene Durchbruch in den Mainstream schien jederzeit möglich – und fiel am Ende doch aus. Heute ist Drum & Bass eine funktionierende, immer noch vorwiegend britisch dominierte Clubkultur mit konstantem Output – der außerhalb interessierter Kreise praktisch nicht wahrgenommen wird. (Immer noch einigermaßen unfassbarer Treppenwitz am Rande: Drum & Bass-Superstar Goldie konnte man in der diesjährigen englischen Promi-Tanzshow „Strictly Come Dancing“ beim Cha Cha Cha erleben – zu einem Kesha-Song.) Dubstep sorgt derzeit für prallvolle Floors, in England ist das führende Dubstep-Radio Rinse FM legalisiert worden, mit Magnetic Man, dem Projekt der Szenestars Skream und Benga, hat sich eine deutlich poporientierte „Supergroup“ positioniert und mit Katy B. gibt es auch gleich den ersten Großraumdisco-tauglichen und obendrein nach Musikbusinessmainstream-Kriterien vorzeigbaren Star.

Die wirkliche Entwicklung findet man am anderen Ende der Skala. Dort schraubt man inzwischen an einem Sound, den man bisher nur mangels besserer Begrifflichkeit noch im Dubstep verortet – oder weil er wie im Falle Mount Kimbie auf einem lupenreinen Dubstep-Label veröffentlicht wird. Kommender Superstar ist dabei zweifelsohne der blutjunge Soundtüftler James Blake, der mit gerade mal zwei EPs für Furore sorgte, bevor er mit dem atemberaubenden Feist-Cover „Limit To Your Love“ die Messlatte an sein eigenes im Februar erwartetes Album auf schwindelerregende Höhen legte.

Was noch? Die GEMA bleibt Daueraufregerthema Nummer eins. Nicht nur, dass man immer noch bei allem quersteht, was Musikstreaming auch hierzulande attraktiv machen würde, jetzt geht es sogar Martins-Umzüglern und Kindergärten an den Geldbeutel. Ausgeblieben ist hingegen der seit anderthalb Jahren angekündigte Deutschlandstart von Spotify ebenso wie der gerüchteumwobene Apple-Streamingdienst oder das von der Musikindustrie eigentlich heiß erwartete Google-Musikdownload-Portal. Die Majorindustrie zehrt mehr denn je von den Verblichenen, Sony hat Michael Jackson, EMI die Beatles. Und gern verzichten können wir nächstes Jahr übrigens auf den scheinbar endlosen Lady Gaga-Overkill und sowieso auf Lena revisited.

Augsburg