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Categories: Konzertbericht

5-jähriger Geburtstag von Erased Tapes Records im Berliner Radialystem V

Ein gepflegtes Rock-Konzert im Festsaal Kreuzberg, exzessive Nächte im Berghain oder das nächste große Ding im Astra abfeiern – wir Berliner Musiknerds haben eigentlich immer die gleichen Locations, in denen wir uns rumtreiben, wir geben es ja zu. Am vergangenen Wochenende gab es für das halbe Hauptstadt-Biz eigentlich nur eine Adresse: “Die 100 allerschönsten DJs der Stadt” – ausgelassene Ekstase bei volltrunkener Gesellschaft mit dem gewissen Trash-Appeal. Reizvoll, keine Frage. Gegen 19 Uhr schmeißt mich die S-Bahn dennoch am Ostbahnhof raus, der Weg zum Berliner Radialsystem V ist schnell gefunden. Das ehemalige Pumpenwerk ist in ein sattes Blau getaucht – Farbanalytiker meinen, es strahlt eine gewisse Treue und Harmonie aus. E.T.A. Hoffmann und seine blaue Blume stehen für diese Sehnsucht, die zwischen Liebe und Hoffnung pendelt.

Es ist ein toller Anblick, wie lange nach Sonnenuntergang das Wasser am Spreeufer die Lichtquellen dieses Horts der Moderne reflektiert. Das in Berlin und London ansässige Label Erased Tapes Records feiert hier seinen fünfjährigen Geburtstag. Es soll ein fantastisches Fest mit fantastischen Musikern und einem fantastischen Spannungsbogen werden. Die Odyssee beginnt mit A Winged Victory For The Sullen, die als erstes die Bühne betreten – der Saal ist voll, selbst auf der Bühne wurden noch Stuhlreihen aufgestellt. Diese Intimität berührt einen sofort, sie ergreift mich genau dann, wenn das ohnehin minimale Licht seinen Kegel einbüßt, um sowohl das Streichertrio als auch die Köpfe Dustin O’Halloran und Adam Wiltzie ins Dunkel zu tauchen. Piano-Drone-Einlagen bauen sich langsam auf, umarmen einen, verlieren ihre Intensität nur dann, um die gewonnene Selbstzufriedenheit alsbald wieder ins Wanken zu bringen.

Schnell wird klar: das wird ein Abend für Genießer, eine therapeutische Musikbehandlung für Großstadthektiker, eine Entschleunigung mit Verstand. Und Witz. Gerade der Isländer Ólafur Arnalds ist ein Charmeur, wie er im Buche steht. Beinahe flüsternd haucht der den Berlinern ein sachtes “Guten Abend” entgegen. Das Pärchen neben mir kommt aus Frankreich, extra angereist für diesen Abend. “Es kann auch sein, dass wir beim Konzert einschlafen, aber dann hat die Musik ihren Zweck ja erfüllt, oder nicht?”, sagte die junge Dame und schaut ihren Freund mit einem schmunzelnden Fragzeichen an. Einschlafen? Da kommt beim Musikkritiker-Herz wieder der Missionierungsdrang hervir. Nein, Einschlafen kommt nicht in Frage. Arnalds wirkt wie ein kleiner Junge, wenn auch hochkonzentriert, als er seine traurigen Lieder anstimmt. Doch allzu viel Trübsal will er nicht dulden lassen, nach dem Abend gibt es deswegen noch ein Afterhour-Set seines Techno-Projekts Kiasmos zu hören. Das Violin-Solo seines Bandkollegen ist von einer derartigen Stärke, dass sich einige im Radialsystem von ihren Sitze erheben. Es ist live gewordenes Kopfkino mit verzweifeltem Kuschelfaktor – großartig!


“Hallo, ich bin Nils Frahm, ich mache hier das Warm-up für die Techno-Party gleich”
, ja an diesem Abend wird nicht nur geträumt. Im Radialsystem herrscht eine bedächtige Stimmung, Ekstase findet hier in den Synapsen statt, dabei ist es einfach nur wunderschön zu beobachten, wie aufmerksam und angenehm die Runde die Konzerte aufnimmt. Kein Künstler spielt wirklich lang, die kurzen Unterbrechungen reichen ideal für’s Zigarettenpäuschen. Frahm beginnt mit einem perkussiven Leckerbissen (Ein Rat seiner Ärztin. Nachdem er sich den Daumen gebrochen hatte, solle er doch körperschonender Musizieren. Wie wäre es denn mit Schlagzeug?). Der Berliner spielt mit Klöppeln auf den Saiten des Flügels, klopft die Ober- und Unterseite ab, trommelt sich beinahe in Rage, immer an der Grenze zwischen Manie und Melodie. Auch wenn er krank ist, bekommen wir das Ausnahmetalent in voller Energie zu sehen. Ob mit Cello-Begleitung oder zusammen mit Olafur Arnalds – der ihm mehrmals brüderlich einen Hustensaft reicht –, Nils Frahm ist die Attraktion an diesem Abend. Wie er sein Instrument beherrscht, mehrmals auch einen elektronischen Duktus einbindet, und selbst wenn es nur wenige Töne sind, so werden diese durch Repetition in ein Crescendo überführt, das einen vergessen lässt, wo man ist. Die meisten haben ihre Augen geschlossen, lassen diese emotionale Achterbahnfahrt mit stoischer Ruhe über sich ergehen.

Das gemeinsame Happening aller Künstler zum Abschluss macht alles perfekt. Halt. Alles viel zu schön, um wahr zu sein. Ist diesem Gefühl zu trauen? Ist ein tobender Applaus wirklich das Maß aller Dinge? Natürlich stellt er die notwendige Reduktion dar, die es nun mal braucht, um dem Gesehenen, Gehörten und Gefühlten ein Ventil zu geben. Wir hätten auch alle nichts machen können, die Magie brauchte keine Lautstärke, sie hat alles und jeden umgeben. Beseelt zum Ostbahnhof laufend, bekommen selbst besoffene Eisbären-Fans von den Konzertbesucher ein Lächeln geschenkt, in der Bahn schmunzeln sich die Poster- und LP-Käufer an, als wenn sie nun einem Geheimclub angehören würden. In der Welt von Erased Tapes sind Worte irrelevant. Stille. 

Sebastian Weiß 

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