Die “MTV Europe Music Awards” demonstrieren nur noch, dass die Kategorie “Europa” popkulturell irrelevant ist. So wie MTV selbst.

“Über 300 Millionen Hits auf YouTube!” verkündet der Sprecher in der Frankfurter Festhalle, es geht um den “Song des Jahres” bei den “Europe Music Awards”, Carly Rae Jepsens “Call Me Maybe”. Dass diese Bezeichnung ob der auch sonstigen Omnipräsenz ziemlich angemessen ist, steht außer Frage. Dass der Musik-Fernsehsender MTV aber ausgerechnet die Klickzahlen des eigenen Totengräbers als Kriterium für Erfolg ausruft, ist denn schon ein kurzes Stutzen wert.

Wirklich wichtig sind die MTV-Awards schon lange nicht mehr. Schon gar nicht in Deutschland, wo MTV selbst seit geraumer Zeit hinter der Bezahlschranke verschwunden ist und stattdessen VIVA als Abspielstation für wenig Musik, viel Reality-Trash und ab und an eben auch mal für eine Live-Übertragung nutzt. Wie viele Leute das wirklich schauen, weiß man nicht, die Einschaltquote fällt in den Bereich der statistischen Messfehlertoleranz. Musikfernsehen in seiner herkömmlichen Form ist nicht mehr relevant, Aufmerksamkeit generiert MTV nur noch über seine ungebrochen als große Show angepriesenen Award-Verleihungen und den dann immerhin noch als erwähnenswerte News verbreiteten Gewinnern der einschlägigsten Kategorien. Dass auch diese letzte Front bröckelt, ließ sich an den diesjährigen EMAs kaum noch übersehen. Nur mühsam schleppte sich die Show von Auftritt zu Auftritt. In Erinnerung bleiben statt der von früher gewohnten glanzvollen Dicke-Hose-Kompetenz, der inszenierten Hingucker-Skandale und dem tatsächlichen Star-Auflauf vor allem technische Probleme, elendiglich lange Werbepausen, dilettantische Dramaturgie und eine gewohnt hölzerne Heidi Klum als Moderatorin, der man – sehr witzig! – für den Auftakt des Happenings einen virtuellen Sprung in die Kloschüssel ins Script schrieb. Da braucht es keinen Freud mehr, um blanke Verzweiflung zu orten. Die eigentliche Show aber war eh kaum eine Nachricht wert, der Kanon der Vermeldungen war: “Kaum Europa bei den Europa-Awards”. Es ist eine Kritik, die eher verkennt als benennt, dass “Europa” kein popmusikalisch relevantes Kriterium mehr ist. Genau genommen: nie war.

Popmusik ist in ihrem Wesen uramerikanisch geprägt und verdankt ihre weltweite Rolle vor allem der amerikanischen Post-World-War-Präsenz in aller Welt, exportiert mit Coca Cola und Kaugummi, befeuert vom Nimbus einer neuen, irgendwann weltumfassenden Freiheit des Individuums. Daran hat sich – im Grunde – bis heute nichts geändert, noch immer gilt der amerikanische Musikmarkt als der größte, wichtigste und attraktivste der Welt. Wer im Pop-Business global bekannt werden wollte, musste den Weg über Amerika gehen, dort Erfolge vorweisen. Sogar die unbestritten unersetzliche britische Popmusikkultur krankte immer wieder an der Frage des Durchbruchs in Übersee, “British Invasion” nannte man demzufolge auch gleich jeden anhaltenderen Erfolg seit den Beatles, mit “Britpop” selbst gelang das zum Beispiel gar nicht. Zu dessen Hochzeiten gab es allerdings ein Medium, das aktuelle Popmusik erstmals (wenn man denn den Begriff etwas kulturimperialistisch lässig auslegt) weltweit gleichzeitig verfügbar machte: MTV.

Auch bei MTV gab es in den besten Zeiten – grob: Anfang/Mitte der Neunziger – eine Kontinent-Regionalisierung: Amerika, Europa, Asien, Lateinamerika. Die folgte allerdings weniger einer kulturellen als einer Vermarktungsagenda. MTV Europe sendete zwar aus London und man merkte das in den vielen guten Momenten durchaus. Nichtsdestotrotz dominierte der Grundgestus des Mutterprogramms nicht nur im Großen und Ganzen sondern bis hin zu einzelnen bis heute stilprägenden Shows: Vom eigentlich brutal billigen “Yo! MTV Raps”, der vielleicht einflussreichsten Musiksendung der Welt, bis zu eben jenen Award-Shows, die Popmusik mit einer bis dato nicht gekannten Event-Wertigkeit aufluden. MTV war Speerspitze und unangefochtenes Leitmedium der Popkultur-Globalisierung. Bis sich herausstellte, dass Teenager in aller Welt eben doch schnell mal umschalteten, wenn die Konkurrenz nicht englisch sprach. Dass es eben doch keine Quoten-Mehrheiten für Special-Interest-Sparten wie “HipHop” gab. Dass regional agierende Plattenfirmen zu mosern begannen, weil ihre Musik sich nicht im Programm wiederfand. In Deutschland gründeten sie denn auch VIVA, das im qualitativen Vergleich unterirdische aber eben für die Kernzielgruppe deutlich einfacher zu goutierende und tatsächlich lokaler agierende Musikprogramm. MTVs Reaktion – regionaler, kommerzieller, Teenie-gerechter – wirkte hilflos. Und dann kam YouTube. Musikfernsehen war plötzlich obsolet – zumindest als kommerziell interessantes Geschäftsmodell.

Seitdem bestimmen nicht mehr Programmgestalter, was gesehen und demzufolge gemocht wird, sondern Klicks, also jene beschworenen “Hits” für einzelne Videos. Das “weltweit” ist dabei systemimmanent, die Globalisierung ist hier Geschäftsprinzip. MTV dagegen ist einer jener verzichtbaren Kabelkanäle geworden, über die man immer mal wieder beim Zappen stolpert; immerhin geht es VIVA noch schlechter, die Reste des Elends wurden von MTV übernommen. Entschieden, was Kids heute weltweit hören, wird bei YouTube. An den Preisträgern der diesjährigen EMAs lässt sich das wunderbar ablesen: Aktuelle Preisträger der Hauptkategorien sind ausschließlich Musiker, deren Erfolgsmythos YouTube explizit mit einschließt. Ob die aus Europa kommen, aus Amerika oder Asien, spielt nur noch eine Rolle in Sachen “Exotik”-Faktor. Man darf annehmen, dass ein obskures “Gangnam Style” aus Deutschland nicht als so witzig empfunden würde wie aus Südkorea. Erstmals auf der großen Bühne präsentiert wurde er auch nicht auf den “MTV Asia Awards” – die gibt es schon seit einigen Jahren nicht mehr. So wie die Pendants für “Australia”, “Africa”, “Latinoamerica” oder auch “Russia”. Die “Europe Music Awards” sind nur noch ein Anachronismus, der wahrscheinlich einfach noch genügend Werbeeinnahmen generiert, um ihn irgendwie weiter zu betreiben. Die Musik spielt schon lange woanders.

Jörg Augsburg

(Fotos: MTV EMA 2012)