Um zu sich selbst zu finden, legte Sam Genders die Gitarre beiseite und wurde Grundschullehrer. Das Projekt Diagrams ist das Ergebnis einer erkenntnisreichen Zeit und “Black Light” sein Tagebuch dazu – motor.de über die Geschichte eines Musikers, der keine Musik mehr machen wollte.
Eigentlich sollte aus der Band Tunng nie eine richtige Formation entstehen. Sam Gender und sein Kumpel Mike Lindsay gründeten das Projekt vor knapp zehn Jahren, um Tracks für TV und Film zu produzieren – doch wie so oft lief die Sache anders als geplant: Recht schnell kamen erste Labels um die Ecke und bekundeten Interesse am Duo, den bisherigen Songs und wollten sie unter Vertag nehmen. Tunng willigten ein. Natürlich ohne zu wissen, was dieser Schritt mit sich bringt und so stand Sam Genders irgendwann ratlos da, wurde sich bewusst, dass Musik als Vollzeitjob mehr Stress als Vergnügen bedeutet. Nach drei gefeierten Alben, die meist Folk mit Electronica kombinierten, war dann auch schon Schluss – für ihn. Er schmiss das Handtuch, der Druck wurde zu groß und der eigene Verdruss nahm überhand – erklärt Genders heute rückblickend.
Rettung fand er schließlich auf dem Pausenhof: Eine Aushilfe für die Grundschule in seiner Londoner Nachbarschaft wurde gesucht und weil Musik erstmal an Interesse für Genders verloren hatte, bewarb er sich 2008 und sagte seinen ehemaligen Bandkollegen Lebewohl. Wie es dazu kam, dass das neue Projekt Diagrams trotzdem entstand, “Black Light” ein verspieltes Debüt geworden ist und Genders sich gerne wieder als Vollzeitmusiker bezeichnet, erzählt der Brite im motor.de-Interview offen und ehrlich.
motor.de: Als rüder Einstieg gleich die offensichtlichste Frage zu Beginn: Wie froh ist der Musiker Sam Genders ein neues Album in der Hand zu halten?
Sam Genders: Sehr, sehr froh. Es gab gewiss Momente in den letzten drei Jahren, in denen ich kein Interesse daran hatte und nie wieder Musik machen wollte – inzwischen sieht das anders aus und ich bin glücklich, dass Diagrams mir nach langer Funkstille neue Möglichkeiten eröffnet.
motor.de: Lass uns über die Zeit nach Tunng sprechen. Du hast als Grundschullehrer gearbeitet, aber kein Studium dafür absolviert – geht das in England ohne Ausbildung?
Sam Genders: (lacht) Nein, natürlich nicht und es ist gut, dass du das ansprichst, weil ich schon oft gelesen habe, dass Sam Genders ganze Klassen unterrichtet haben soll und dem überhaupt nicht so ist. Korrekt: In England wurde vor ein paar Jahren entschieden, dass jedem ausgebildeten Pädagogen ein Hilfslehrer zur Seite gestellt wird, um intensiveren Unterricht betreiben zu können und genau auf solch eine Assistentenstelle habe ich mich beworben.
motor.de: Heißt das, du bist nur in Erscheinung getreten, wenn die Kids sich zankten?
Sam Genders: Es wurden Lerngruppen gebildet und da bekam mein Kollege die eine Hälfte der Klasse und ich übernahm den Rest. Nichts Ungewöhnliches in England – als pädagogische Qualifikation muss man allerdings schon “langjährige Erfahrungen im Umgang mit Kindern” vorweisen und als ehemaliger Gitarrenlehrer hatte ich die natürlich.
motor.de: Wo wir gerade beim Thema sind. Fiel es dir schwer, die Gitarre nach deinem Ausstieg bei Tunng beiseitezulegen?
Sam Genders: Es war nicht so, dass ich Tunng verließ, weil ich keine Musik mehr machen wollte, sondern weil die Umstellungen in der Band zu viel für mich wurden [aus dem Duo wurde 2006 gegen Genders Willen ein Quartett, Anmerkung d. Red.]. Somit fehlten die Einnahmen aus den jährlichen Tourneen und ich brauchte einen Job – gesucht, gefunden: Assistenzlehrer.
Diagrams – “Antelope”
motor.de: Kam der Verzicht auf die Musik durch die neuen Aufgaben?
Sam Genders: (nickt) Richtig, ich fand immer weniger Zeit und ließ meine Gitarre manchmal drei, vier Wochen in der Ecke stehen.
motor.de: Welches Verhältnis hattest du in dieser Zeit zur Musik?
Sam Genders: Ich betrachtete es als Hobby. Notgedrungen, weil mich das Bandleben nur noch depressiv machte. (überlegt) Zudem bin ich ein unsicherer Mensch und innerhalb eines Kollektivs darfst du nicht ständig zwischen A und B hin und her schwanken, das verunsichert den Rest der Gruppe total. Zu zweit ging das, doch als Tunng immer größer wurden, wollte ich den anderen nicht zur Last fallen.
motor.de: Deswegen kehrst du mit Diagrams als Einmann-Projekt zurück – wie kam es dazu, dass dein Debüt “Black Light” reale Formen annahm?
Sam Genders: Ein gutes Jahr nach meinem Ausstieg habe ich wieder angefangen, eigene Songs zu schreiben – es war zum damaligen Zeitpunkt zwar nie mein Wille, wieder als Musiker aktiv zu werden, aber die Sachen, die entstanden, wollte ich einfach zum Spaß ein paar Leuten vorspielen und gab vereinzelt Konzerte. Eins kam zum anderen und “Black Light” entstand.
motor.de: Im Gegensatz zu Tunng, die ihre Folktronica gerne mal mit Kammblasen umsetzten, wirkst du mit Diagrams recht aufgeräumt.
Sam Genders: Geordneter würde ich sagen und natürlich ein wenig elektronischer. Improvisieren liegt mir kaum und ich schaue immer, dass die einzelnen Elemente zusammenpassen. Die Variationen durchforste ich eher theoretisch und gehe mit einem sehr konkreten Bild vor Augen ins Studio.
motor.de: Die ersten Kritiken sprechen von einem Progpop-Album und loben die lyrische Qualität, bezeichnen “Black Light” zudem als positiv gestimmt.
Sam Genders: Ich überlegte lange, ob ich inhaltlich nicht zu optimistisch rüberkomme und die Rechnung vielleicht nicht aufgeht – dass mein erstes Soloalbum im schlimmsten Fall wie eine Parodie auf die schwere Zeit vor der Entstehung wirkt. Aber ich bin heute glücklicher als früher und aus dieser Perspektive heraus ist das Leben nicht mehr so kompliziert (lächelt).
motor.de: Neben der Musik fällt einem der visuelle Aspekt des Projekts ins Auge – bist du für die Grafiken verantwortlich?
Sam Genders: Leider nein, eine Freundin von mir – Chrissie Abbott – entwarf bislang die Cover der EPs und meines Debüts. Ich lernte sie durch einen Artikel in der Zeitung kennen und war begeistert von der Art und Weise, wie sie über Kunst und deren Entstehung sprach.
motor.de: Hat sie die einzelnen Bilder extra für dich entworfen oder bedientest du dich aus ihrem Fundus?
Sam Genders: Anfänglich fragte ich sie, ob ich dieses oder jenes Werk nutzen dürfte. Meist stimmte sie sofort ein, aber als mein Projekt konkrete Züge annahm, wollte sie eigens Sachen kreieren. (stockt für einen Moment) Lustige Geschichte: Als sie Bescheid bekam, dass “Black Light” ein Label zur Veröffentlichung gefunden habe, sagte Chrissie mir, dass sie sofort mit der Umsetzung anfangen wolle – Ich: Du hast doch überhaupt noch keinen Song gehört – Sie: Es sind zwei Kunstformen, die passen ohne Listening-Session zusammen.
motor.de: Um den Kreis zur Eingangsfrage zu schließen – hast du Angst davor, mit Diagrams in einem ähnlichen Kreislauf wie damals mit Tunng zu geraten?
Sam Genders: In erster Linie bin ich froh, wieder Gefallen an der Musik gefunden zu haben. Wahrscheinlich auch, weil ich weiß, dass da noch ein anderer Job ist, der toll ist und mir durch eine schwere Zeit geholfen hat. Denn Kraft für mein neues Projekt Diagrams schöpfte ich nicht zuletzt auf dem Schulhof. So verrückt das klingen mag.
Text & Interview: Marcus Willfroth
Bilder: Chrissie Abbott
No Comment