Wo Disko draufsteht, ist Tanzen drin. Könnte man meinen, aber zuweilen ist der Dancefloor auch ein gefährliches Pflaster: Wo junge Menschen dicht gedrängt ihren Gefühlen freien Lauf lassen, wo das Strobolicht flackert und die Spannung greifbar ist, die Luft elektrisiert. Miikka Koivisto würde diese Atmosphäre mehr zusagen als Tanzschulschritte unter der Diskokugel, als Abba und Erasure.
Finnlands bestgehütetes Geheimnis muss als gelüftet betrachtet werden – und dabei spielen düstere Metalklänge entgegen der landläufigen Meinung ausnahmsweise keine Rolle. “First Aid Kit”, das zweite Album des finnischen Quartetts Disco Ensemble, ist von ganz anderem Kaliber, ist Punkrock mit der Betonung auf der zweiten Silbe. Wild, unbekümmert, eindringlich und vor allem: rastlos. Und bei aller Aggressivität durchweg positiv, wie Sänger Miikka betont.
“Textlich geht es darum, nicht zurückzuschauen. Es geht ums Überleben,” sagt er. “Mit den Unwägbarkeiten und Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen, sie zu bekämpfen wie es eben geht.” Darum geht es bei Disco Ensemble.
“Das Gute daran, wenn Du über negative Dinge singst ist, dass Du all die schlechten Gefühle nimmst und sie kreativ verarbeitest. Schließlich ist Musik wahrscheinlich die beste Therapie, die man sich vorstellen kann. Das gilt auch für diejenigen, die sie hören.”
Auf “First Aid Kit” geht es um den Schmerz. Den, der tief in Deinem Inneren sitzt und für den es keinen Verbandskasten gibt. Und es geht um Sirenen, die vom Unheil künden: im krachig-hymnischen “Black Euro” zum Beispiel. “Can you hear the seductive sirens? / Can you hear the atonal anthem?” Es geht um das Gefühl von zu viel (“This Is My Head Exploding”) und zu wenig, wie im Song über die Angst “We Might Fall Apart”, der die dräuende Gewissheit dass es vorbei ist, vermittelt. Hier besitzt die Vorsilbe Emo noch ihre ursprüngliche Bedeutung, ist noch nicht zum verwässerten Begriff für alle Arten von Gitarrenpop verkommen.
Die Geschichte von Disco Ensemble beginnt im kleinen Nest Pori an der finnischen Westküste. Sie handelt von Drummer Mikko und Gitarrist Jussi, die mit zwölf ihre ersten Instrumente bekamen und fortan gelehrige Schüler solcher Bands wie den frühen Metallica, At The Drive-In oder Refused wurden. Zunächst lockte man die tanzfreudige Kleinstadtjugend mit dem Bandnamen Disco (den sie später wieder ablegten, da es bereits eine finnischen Elektropop-Band gleichen Namens gab) unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Clubs – um sie dann Zeuge der wüstesten und provokantesten Rockshow werden zu lassen, die die Kids bis dahin erlebt hatten. Miikka Koivisto war damals unter den Zuschauern und stieg dann, im Jahr 2000, quasi als Fan, in die Band ein, zunächst als Gitarrist, später dann als Sänger. Drei Jahre später zog es die Band in die finnische Hauptstadt Helsinki, offiziell um zu studieren und vielleicht um die Eltern zu beruhigen. Es ging nicht lange gut. Nach einem kurzen Bäumchen-wechsel-dich mit verschiedenen Bassisten rekrutierten Disco Ensemble schließlich Lasse Lindfors als viertes festes Bandmitglied. Zusammen spielten sie noch 2003 ihr vielbeachtetes Debüt “Viper Ethics” in den renommierten Tonteknik Studios (u.a. Refused, The Hives, Bombshell Rocks, Poison The Well) in Umeå, Schweden, ein. Das Album, vom finnischen Undergroundlabel Fullsteam Records veröffentlicht, wurde zum kleinen Kritikerliebling und Hals über Kopf sah sich Disco Ensemble auf Tour wieder: nicht nur in Finnland, in ganz Europa wohlgemerkt.
Mit “First Aid Kit” liegt nun also das Zweitwerk vor. Aufgenommen wurde es in den Fascination Street Studios im schwedischen Örebro, unter der Obhut von Produzent Jens Bogren. Sogar The Hives-Produzent Pelle Gunnerfeldt bediente zusammen mit Michael Ilbert bei vier Songs die Regler. Das Album sprüht trotz der gewonnenen Reife der Band nur so vor jugendlicher Gipfelstürmermentalität. Ob in der Absage “Drop Dead, Casanova”, der Ansage “You Are The Dawn”, ob in der Up-Tempo Abschiedshymne “So Long, Sisters” oder dem aggressiv-vitalen “Fresh New Blood”.
Wer ungestüm nach vorne prescht, riskiert zu stolpern und sich die Knie aufzuschlagen. Disco Ensemble haben das eingeplant und vorgesorgt: Die Schürfwunden verheilen schon wieder.
Disco Ensemble sind:
Miikka Koivisto – vocals, keys
Mikko Hakila – drums
Lasse Lindfors – bass
Jussi Ylikoski guitar
Peter Flore
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