Die postmoderne elektronische Musik befindet sich in einem äußerst spannenden Paradigmenwechsel. Statt für die Tanzfläche zu produzieren, wenden sich zunehmend mehr Soundtüftler kopflastigeren Projekten zu. Neben Künstlern wie dOP, Nikita Quasim oder Mount Kimbie ist James Blake sicherlich der bekannteste Vertreter dieser neuen Garde. Mit gehörigem Selbstbewusstsein zeigte das Debüt des Briten neue Perspektiven auf. Anstelle eines Wettlaufs um höhere BPM-Raten, setzt Blake eher auf Pausen, glänzt mit sensibler, emotionaler und verlangsamter Musik. Indes die hohe Erwartungshaltung und euphorische Vorfreude durch den Langspieler befriedigt wurde, so führte sie dennoch beinahe zu einer folgenschweren Missachtung. Nur wenige Tage vor Blake’s Release legte der amerikanische Produzent Nicolas Jaar ebenfalls sein Erstlingswerk vor. Sein entschleunigtes SPACE IS ONLY NOISE hebt sich nicht nur von der aktuellen elektronischen Musiklandschaft ab, sondern gehört zweifellos zu den aufregendsten Neuentdeckungen des Jahres.
Wenn Blake das Winderkind ist, was ist dann Jaar?
Man nehme nur die Eröffnungsnummer „Etre“: Meeresrauschen erfüllt die Ohrmuscheln, Wellen werden an die Küste gespült, französische Film-Monologfetzen ertönen, ehe eine Stimme in nachdenklichen Kolorit das Album einleitet: „Look, it’s a body, floating into the land. Now, it’s a body swimming out into the water. Now, it’s the land itself, here, that is a body; a body of land. It’s the water itself that’s a body of water.” Auch das nachfolgende, betörend faszinierende „Colomb“ hält das plätschernde Wassermotiv aufrecht. Die Suggestion: Alles fließt. Dieses Album will keine Fragmente anbieten, keine szenischen Schnipsel, sondern als universelles Gesamtkunstwerk wahrgenommen werden. Mit Slow-Motion-Musik traumwandelt der DJ in seiner eigenen Welt aus rudimentären Built-Ups, die eindrucksvoll die Auseinandersetzung mit moderner Minimal Music dokumentieren. Während James Blake deutlich vom Dubstep inspiriert wurde, sind Jaars Wurzeln nicht so einfach auszumachen: Bietet er mit „I Got A“ eine schleichende Handclap-Variante von Ray Charles’ Klassiker an, so erinnert „Too Many Children Finding Rain In The Dust“ an Massive Attack oder Portishead. Das Hauptgerüst seiner Stücke bilden reduzierte Beats, die mannigfaltig durch Samples begleitet werden. Ob naturalistische Klangskulpturen, Stimmfetzen oder wie bei „Keep Me There“, wenn im Mittelteil disharmonische Saxophon-Loops die Regie des Liedes übernehmen – der eklektische Ideenreichtum auf SPACE IS ONLY NOISE fordert einiges ein.
Nicolas Jaar – Too Many Children Finding Rain In The Dust
In Chile geboren, kam der erst 20-Jährige durch den Stilmix von Ricardo Villalobos auf die elektronische Schiene. Die Kreuzung aus Minimal Techno, House und sphärischer Ambientemusik brachte Jaar dazu, bereits im Alter von 14 die ersten Songs zu kreieren. Drei Jahre später verlegte der damals 17-jährige DJ seine ersten Tracks beim Brooklyner Label Wolf + Lamb. Songs von seinen bisherigen Einzelveröffentlichungen wie „A Time For Us“, „Angels“ oder „Love You Gotta Lose Again“ stehen für aufgeweckte Frische, und sind mit jener stoischen Gelassenheit versehen, die auch sein Debüt kennzeichnen. In Zeitlupe breitet Jaar seine puristische Housemusik aus. Verlangsamte und auslaufende Beats stehen dabei nicht für die Expressivität minimaler Musik, sondern sind bewusst gesetzte gestalterische Elemente, die einem genauen Kalkül folgen. Ambivalent konzipiert, kann seine Musik in jedem Schickimicki-Restaurant vor sich hin dudeln, avanciert bei aufmerksamer Zuwendung jedoch zu einem elektronischen Artefakt.
Nicolas Jaar – Space Is Only Noise If You Can See
Mittlerweile kümmert sich Jaar nicht nur um seine eigenen Konzepte und Ideen, sondern sucht nach Gleichgesinnten. Auf seinem Label „Clown And Sunset“ befinden sich mit Soul Keita und Nikita Quasim zwei weitere Ausnahme-Minimalisten, die es ebenfalls verdienen, gehört zu werden. Ein künstlerisches Konglomerat, welches sich gegenseitig zu neuen Soundexperimenten erquickt, wie die gemeinsame INÉS LP beweist. Ein ständiger Motor im Schaffen Jaars ist sein Studium der Literaturwissenschaft. Zwar will er dieses konsequent durchziehen, doch die zunehmende Popularität lässt ein immer größer werdendes Fragezeichen aufleuchten. Sets von ihm werden vorerst nur im Internet zu hören sein, denn Live-Auftritte werden angesichts seines Studiums eher rudimentär stattfinden. Bis Juli wird der begnadete Burschen nur vier Mal in Europa unterwegs sein, unter anderem beim Melt!-Festival.
Interessant wird sein, ob er dort seine mitunter beklemmenden Tracks abwandeln wird. Nur im Mittelteil des Albums experimentiert er in Ansätzen mit tanzbaren Motiven, welche neben Dubstep- auch Souleinflüsse beherbergen. Bilden die hintereinander gesetzten „Problems With The Sun“ und der Titeltrack der Platte zeitweilig Gegensätze, manifestieren sie doch ein und dasselbe Prinzip: selten überlagern sich die Ideen, eher wird Absolution in der Reduktion gesucht. Und bei Nicolas Jaar auch gefunden.
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