Von der „Rhythmusgruppe“ zur zentralen Soundphilosophie: Beste Zeiten für Basslines. 

Mother(board) of all bass: Roland TB-303

„Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist“ heißt ein alter Grönemeyer-Hit, es geht um ein taubes Mädchen, das Musik nur wahrnimmt, „wenn sie ihr in den Magen fährt, wenn der Boden unter den Füßen bebt“. Es ist ein Phänomen, dass jeder kennt, der schon mal auf einem anständigen Konzert war, auch, wenn Lautstärke dort per se eher an den zugezogenen Hörschäden gemessen wird. Eine gute Anlage vermeidet derlei natürlich und erzielt trotzdem den berühmten Schlag in die Magengrube, wenn der Bass einsetzt. Der Song stammt aus den frühen Achtzigern, nach allgemeiner Ansicht der zeitgenössischen Popmusik waren Bassspieler damals die Pechvögel, die es nicht geschafft hatten, die Gitarre zu bekommen, „Rhythmusgruppe“ heißt der Unglücksverbund mit dem noch mehr bemitleideten Drummer noch heute fachmännisch.

Oder es waren – wenn es hoch kam – durchgedrehte Funk-Freaks mit seltsam spastischen Bewegungen und einem Instrument das, kurz unter den Achselhöhlen platziert, deutlich scheiße aussah. Man kannte indes damals auch noch nicht den Begriff „Clubkultur“ und was ein paar zugekiffte Jamaikaner gerade im Begriff waren, aus Musik zu destillieren, war selbst Jahre später noch Minderheitenmusik. Denn angefangen hat das heute praktisch einzig verbliebene musikalische Innovationspotenzial der Popmusik mit Dub, damals, als nicht nur der Remix erfunden, sondern auch erkannt wurde, welch mächtige Waffen Tieffrequenzen auf dem Dancefloor sein konnten.


Klingt hier garantiert amputiert. 

Derzeit ist der junge Londoner James Blake in aller Munde, sein Debüt wird von nicht wenigen als spannendstes Album dieser Dekade angesehen, der Künstler selbst als die Entdeckung mindestens des Jahres. Bis hin zur Rotation beim altehrwürdigen BBC1 reichte der Hype um die eigenwillige Ballade „Limit To Your Love“, der das Missverständnis natürlich auch in sich birgt. Denn man kann die Faszination dieses Songs eigentlich nur verstehen, wenn man ihn auch „richtig“ hören kann, in voller Frequenzbreite, zumindest soweit das technisch möglich ist. Den aktuellen Hörgewohnheiten von Mehrheiten und unter Alltagsbedingungen steht das diametral entgegen. Es ist ein Effekt, den man in vielleicht am ehesten mit den Gemälden eines Ad Reinhardt vergleichen kann, dessen „Black Paintings“ schlicht nicht funktionieren als Reproduktion in einem Katalog oder auf dem Bildschirm. iPod-Kopfhörer, Computer-Boxen, Teenager-Handylautsprecher oder auch nur das normal limitierte Soundspektrum, das man heutzutage im Popradio fährt, können den essenziellen Teil dieser Musik gar nicht wiedergeben: die buchstäblich erschütternde Basssequenz, die man nicht mal besonders laut aufdrehen muss, damit Wände und Fußboden anfangen zu vibrieren. Ohne diesen Bass ist das (nun gut, wir vereinfachen hier ein bisschen) eigentlich nur nette Frickelmusik, von einem begabten Jungspund am Laptop zusammengebastelt.

Es ist eine faszinierende Entwicklung, die der Stellenwert von Bass mindestens seit dem großen Techno-Aufbruch vor dreißig Jahren genommen hat. Das entscheidende Qualitätskriterium für angesagte Clubs ist – neben dem Booking und dem Ambiente – vor allem eins: Wie mächtig ist die Anlage? Wobei „mächtig“ eben nicht „laut“ meint, sondern die Fähigkeit Bassfrequenzen möglichst ideal darzustellen. Also direkt physisch wahrnehmbar, trotzdem nicht verschwommen oder einfach nur dumpf. Dancefloors werden heute unter Berücksichtigung des bestmöglichen Basssounds konzipiert. Im Gegenzug beschäftigen sich Produzenten damit, immer ausdifferenziertere Soundverschiebungen innerhalb des Bassspektrums hörbar zu machen, ist gar der entscheidende Fortschrittsmotor der Popmusik die Evolution des Bass vom reinen Taktgeber zum zentralen Element der Soundarchitektur, deren simpelste Ausformung es seit eh und je ist, wenn der magische Moment der Stille eines Breaks soweit ausgereizt wird, dass die einsetzende Bassdrum erhobene Hände, Jubel und Ekstase auszulösen vermag.

Das geht tief – Sub-Bass!

Dub, Drum & Bass und jetzt Dubstep haben die Grundlagen für ein Verständnis von Bass gelegt, das noch viel weiter reicht; das der eigentlich eingeforderten Handhabbarkeit von Popmusik als zumindest in gewisser Weise Gebrauchsmusik grundlegend widerspricht. Denn in voller Eleganz und Ausformung wahrnehmbar wird ihre Schönheit normalerweise nur im Club und seiner Bassbox-Infrastruktur. Aber immer weiter weg bewegt sich das aktuelle Schaffen der Post-Dubstep-Generation von der Funktionalität, die im Club lange Zeit als einzige zählte: Tanz. Stattdessen stellt sich diese Neuentdeckung von Bass als eine vom reinen Nutzzweck befreite Hörmusik dar, eher schon konzertant dargeboten für ein Publikum, das eine Sound-Vorbildung benötigt, und am besten noch mit den Grundlagen von Minimalismus und Dekonstruktion vertraut sein sollte. Das eigentlich Erstaunliche daran ist, dass diese Philosophie von Bass überhaupt das Zeug zur größeren Wahrnehmung hat. Und wem das dann doch zu weit geht: der Technofloor ist meist nur eine Etage entfernt.

Augsburg