Die Zeiten, in denen Rockmusik per se schon ein Akt der Rebellion war, sind vorbei. Kreativer Protest und Protest von Kreativen bleiben aber auch im Jahre 2010 nicht ungehört.
Es ist schon auffällig, wie viele Musiker sich in den vergangenen Wochen und Monaten zu politischen Themen geäußert haben oder derzeit versuchen, ihre Popularität zu nutzen, um gegen bestehende Missstände vorzugehen. Das Jahr 2010 lädt aber auch, wie selten eines zuvor, zu zivilem Ungehorsam oder zumindest zu PR-trächtigen, politischen Kampagnen ein. So leiden die USA unter der schwersten Naturkatastrophe ihrer Geschichte, deren Folgen den amerikanischen Präsidenten wie einen Dilettanten aussehen lassen und sehen sich im Bundesstaat Arizona mit diskriminierenden Immigrationsgesetzen konfrontiert, während im marokkanischen Agadir jüngst über eine Lockerung des Walfangverbots diskutiert wurde, an welches sich Staaten wie Japan oder Norwegen ohnehin nicht halten. Vor der Küste Israels wird dagegen ein Hilfskonvoi für den Gaza-Streifen durch völlig überzogene militärische Gewalt gestoppt, in dessen Folge neun Aktivisten ihr Leben verlieren. Und selbstverständlich ist auch das Musikbusiness indirekt von der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg betroffen, weshalb die Selbstinszenierung von Künstlern als Gutmenschen auch ein probates Mittel ist, sich im Gespräch zu halten oder die neu bzw. wieder entdeckte Political Awareness als gezielte Marketingstrategie einzusetzen. Gründe für die Repolitisierung der Szene gibt es also genügend. So ist es an der Zeit, einmal die Hauptschauplätze zusammen zu fassen, auf denen Musiker zurzeit der politischen Agitationen fröhnen.
Allem voran muss da zweifellos die, vom britischen Konzern BP verschuldete Ölkatastrophe im Golf von Mexiko erwähnt werden. Nie zuvor hat ein, von Menschenhand verursachtes Desaster, für solch gravierende Umweltschäden gesorgt, wie die Explosion der Bohrinsel Deepwater Horizon, in deren Folge nun schon seit dem 22. April täglich hunderttausende Liter Öl ins Meer sprudeln. Neben den Umweltschäden sind auch die verheerenden wirtschaftlichen Folgen in den betroffenen Gebieten schon heute unermesslich. Präsident Obama scheint jedoch mit der Situation überfordert zu sein und die zynische republikanische Opposition, die jetzt am lautesten die Regierung in Washington kritisiert, kann nicht oft genug an ihre „Drill Baby Drill!“-Kampagne aus dem Jahre 2008 erinnert werden, mit der sie seinerzeit für die Ausweitung von Ölbohrungen warb. Als Reaktion auf die Ereignisse hat die kalifornische Nu Metal-Band Korn schließlich zu einem Boykott des BP-Konzerns aufgerufen. Auf der diesjährigen Sommertour der Jungs aus Bakersfield soll keines ihrer Fahrzeuge mit Kraftstoff des Unternehmens befüllt werden. Sänger Jonathan Davis bemerkte zu den Gründen dieser Aktion Anfang Juni folgendes:
„Die tägliche Berichterstattung der Ölkatastrophe ist wirklich schwer zu ertragen. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dem BP-Konzern zu zeigen, dass es Folgen hat, wenn man solche Unglücke verursacht. Wir möchten BP damit eine Nachricht senden, damit sie sich zukünftig mehr um präventive Maßnahmen kümmern. Je teurer ihre Strafe ausfällt, desto mehr werden sie dafür Sorge tragen, dass Zwischenfälle wie dieser nie wieder vorkommen.“
Sicher ist diese Aktion nicht viel mehr als ein symbolischer Akt und auch die Frage, ob man mit dem Ölkonzern BP tatsächlich die Hauptverantwortlichen für die Katastrophe trifft, stellt sich. Schließlich haben sowohl Demokraten als auch Republikaner in den USA über Jahrzehnte hinweg stets grünes Licht für solch – wie sich nun gezeigt hat – riskante Bohrungen auf dem Meeresgrund gegeben und letztlich sind auch wir als Konsumenten nicht ganz unschuldig, wenn es um die tiefer liegenden Ursachen für solche Katastrophen geht. Dennoch kann BP mit diesem Boykott gezeigt werden, dass man mit Ölbohrungen nicht nur Milliarden Dollar erwirtschaften kann, sondern sich im Krisenfall auch verantworten muss, während man an Präsident Obama nur appellieren kann, die Ereignisse im Golf von Mexiko tatsächlich als Anlass für die längst überfällige Energiewende in den USA zu nehmen.
Mittlerweile haben sich jedenfalls weitere Künstler in den, von Korn ins Leben gerufenen Boykott eingereiht. Dazu gehören unter anderem namenhafte Acts wie Disturbed, Lady Gaga oder die Backstreet Boys.
Korn dazu:
„Wir sind sehr stolz darauf, dass bereits so viele Bands an Bord gekommen sind und hoffen, dass es noch viele weitere werden.”
Bleiben wir in den USA. Dort erhitzt zurzeit nämlich ein weiteres politisches Thema die Gemüter. Aufgrund von neuen Immigrationsgesetzen, kann die Polizei im US-Bundesstaat Arizona seit kurzem nämlich jede Person festnehmen, die sich nicht hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus in den USA ausweisen kann. Darüber hinaus werden wohl vor allem hispanisch stämmige Personen von den Kontrollen betroffen sein, da sie für illegale Einwanderer aus Mexiko gehalten werden. Die Gesetze dürften also zu sogenanntem “Racial Profiling”, zu eindeutiger Rassendiskriminierung führen. Nach der Einführung der Gesetze kam es in Arizona und anderen US-Bundesstaaten zu einem Sturm der Entrüstung. Und natürlich dürfen auch Rage Against The Machine nicht fehlen, wenn es um zivilen Ungehorsam geht. So hat deren Frontmann Zack De La Rocha zusammen mit Acts wie Cypress Hill, Massive Attack und Conor Oberst eine Protestgruppe namens „The Sound Strike“ ins Leben gerufen. Musikfans auf der ganzen Welt sind dazu aufgerufen, eine Petition gegen die Gesetze zu unterzeichnen.
Zack De La Rocha über die Immigrationsgesetze in Arizona:
„Einige von uns haben rassistisches Profiling bereits in der Vergangenheit erlebt aber diese Gesetze sind der Tiefpunkt. Wenn andere Bundesstaaten dem Vorbild Arizonas folgen, begeben wir uns in eine Realität wie vor der Bürgerrechts-Ära.”
Außerdem wollen die am Sound Strike beteiligten Künstler keine Konzerte mehr in Arizona spielen, solange die Gesetze in Kraft sind. Diese Maßnahme trifft jedoch, wie so häufig, in erster Linie diejenigen, die am wenigsten für die Gesetze können, nämlich die dortigen Musikfans. Der rechts-konservativen Regierung in Arizona dürfte es dagegen sogar recht sein, dass eine aufrührerische Band wie Rage Against The Machine auf absehbare Zeit keine Live-Shows mehr in „ihrem“ Bundesstaat spielen wird. Je umfassender aber die kulturelle Isolation Arizonas wird, desto größte dürfte der Druck auf die verantwortlichen Politiker werden, doch noch umzudenken und die Gesetze zurück zu nehmen.
Auch der Beitrag des Rappers Chuck D von der legendären politischen Hip Hop-Band Public Enemy soll an dieser Stelle noch erwähnt werden, welcher mit „Tear Down That Wall“ einen Song gegen die Immigrationsgesetze geschrieben hat, in dem er sich direkt an die Regierung in Arizona richtet und die dortigen Kontrollen als “Gestapo Border Controll” bezeichnet.
Ziemlich harter Tobak – aber nicht die erste Auseinandersetzung zwischen Chuck D und dem Bundesstaat Arizona. Mit dem Track „By The Time I Get To Arizona“ reagierten Public Enemy 1991 auf die Weigerung der dortigen Regierenden, den Geburtstag von Martin Luther King Jr. als nationalen Feiertag anzuerkennen.
Zu einem – vom Ansatz her – ganz ähnlichen Musiker-Boykott wie in Arizona kam es jüngst auch gegenüber Israel. Grund war die Tötung von neun Aktivisten eines internationalen Hilfskonvois am 31. Mai dieses Jahres. Trotz der israelischen Blockade des Gaza-Streifens versuchte die sogenannte Freedom-Flottille an diesem Tag Hilfsgüter in die dortige Krisenregion zu transportieren. Bei der Stürmung des Schiffes „Mavi Marmara“ kam es schließlich zu dramatischen Auseinandersetzungen zwischen den israelischen Soldaten und den Teilnehmern des Hilfskonvois, bei denen neun Aktivisten starben. Als Reaktion haben zahllose Künstler in der Folgezeit ihre Israelkonzerte abgesagt. Unter ihnen waren namenhafte Acts wie Elvis Costello, Carlos Santana und die Pixies.
Diese Aktion ist aber mit größerer Vorsicht zu genießen als der Boykott in Arizona. Während die dortigen Musikfans nämlich die Möglichkeit haben, ihre Lieblingsband im benachbarten Kalifornien anzutreffen, stellt sich dies für die Israelis schon schwieriger dar. Schließlich heißen deren Nachbarn Jordanien, Libanon und Ägypten und dort ist die Liebe zu westlicher Rockmusik bekanntlich nicht ganz so ausgeprägt. Und auch wenn die Militäraktion zweifellos vollkommen überzogen war, sollte man auch immer wieder daran erinnern, dass Israel fast täglich mit Raketen aus dem Gaza-Streifen beschossen wird und auf der sogenannten Friedensflotte nachweislich auch einige islamistische Hardliner zugegen waren. Davon aber kein Wort bei all den Gutmenschen. Einseitiges Israel-Bashing sollte also tunlichst vermieden werden, zumal auch ein Großteil der israelischen Bevölkerung das Vorgehen der Armee scharf kritisiert hat. In diesem Falle wäre es wohl doch angebrachter, nicht auf Konzerte in Israel zu verzichten, sondern stattdessen offensiv für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts zu werben. So wie Elton John kürzlich auf einem Konzert in Tel Aviv:
“Schalom, wir sind so glücklich, wieder hier zu sein! Nichts wird uns daran hindern, hierher zu kommen. Musiker verbreiten Liebe und Frieden und bringen Menschen einander näher. Das ist es, was wir tun. Wir picken uns für unser Gewissen nicht die Rosinen raus.”
Schließlich ist auch die Zahl an Bands und Künstlern stetig wachsend, die sich für die Rechte von Tieren und den Umweltschutz engagieren. Bekannte Beispiele sind etwa die Politpunk-Bands Rise Against und Anti-Flag, die ebenso offen ihre Symphatien für die Tierschutzorganisation PETA bekunden wie Bela B von den Ärzten. Sie alle hätten wahrscheinlich auch ein wütendes Statement zum kommerziellen Walfang parat, dem trotz offiziellem Fangverbot nachwievor tausende Tiere jährlich zum Opfer fallen. An einer Kampagne der Whale And Dolphin Conservation Society (WDCS), einer Tierschutzorganisation, die sich für die Rechte von Walen und Delfinen einsetzt, haben stattdessen kürzlich The Horrors mitgewirkt. Zu einem Spot wider eine mögliche Lockerung des Walfangverbots, über die am 21. Juni im marokkanischen Agadir diskutiert wurde, lieferten die britischen Garagenrocker den Soundtrack. Nicht umsonst, wie sich mittlerweile resumieren lässt: Zumindest das offizielle Walfangverbot bleibt nämlich bestehen.
Festzuhalten bleibt also, dass die Political Awareness unter Musikern groß ist dieser Tage. Dies ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, gerade in Zeiten, in denen Protestmusik als solche bereits zu Grabe getragen schien. Und sicher gibt es noch unzählige weitere Bands, die in dieser Abhandlung hätten auftauchen können. Ob dabei im Endeffekt eher PR-trächtige Aktionen wie im Falle von Korn, authentischer, da über Jahre hinweg praktizierter Aktivismus à la Zack De La Rocha, Rise Against und Anti Flag oder etwas überstürzter Aktionismus wie bei den Pixies heraus kommen, ist zunächst eher zweitrangig. All die genannten Acts sind immer noch symphatischer als jene, die vom politischen Geschehen unserer Zeit so gar nichts wissen wollen. Denn wie hieß es einst bei Zack: „If we don’t take action now, we settle for nothing later“.
Thomas Kasperski
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