Mit Emigrate hat Rammstein-Gitarrist Richard Z. Kruspe ebenso musikalisch eine zweite Identität gefunden wie ihm das in seiner neuen Heimat New York auch privat möglich war. Auf dem jetzt erscheinenden Emigrate-Debüt profiliert er sich jenseits von Rammstein als überzeugender Sänger, Komponist und Performer. Der Fortbestand der Hauptband ist indes nicht in Gefahr, wie der 40-Jährige im Gespräch versichert.

EMIGRATE: “My World” – Resident Evil: Extinction Video Mix

Die größte Überraschung an Emigrate dürfte sein, dass Du auf der Platte singst. Hast Du das früher schon getan?
Im Prinzip nicht. Obwohl: Es gab ganz früher mal ein Punk-Projekt mit Till (Lindemann, Rammstein-Sänger), da habe ich eine Sonic Youth-Coverversion gesungen. Das ist aber bestimmt schon 15 Jahre her.

Und seitdem hast Du nur noch unter der Dusche gesungen?
Genau, unter der Dusche oder auch sonst, wenn keiner hinhört. Was man eben so macht. (lacht)

Zuerst war dann wohl auch geplant, für Emigrate mit einem Sänger zusammenzuarbeiten, richtig?

Das ist richtig – ich habe am Anfang darüber nachgedacht, einen Sänger in das Projekt einzubinden. Irgendwann hat mich ein Freund ermutigt, es doch einfach selbst zu probieren. Das war die Initialzündung. Trotzdem ist das Singen zunächst ein relativ mühsamer Prozess für mich gewesen, es war ein bisschen wie Laufen lernen.

Die meisten Leute haben am Anfang Probleme damit, ihre eigene Stimme auf Band zu hören.
Das war auch bei mir der Fall. Für mich, als erfahrenen Songschreiber, mit hohen Ansprüchen war es zudem frustrierend, beim Gesang nicht wie gewohnt zu schnellen Ergebnissen auf hohem Niveau zu kommen. Das war ein sehr schwieriger Prozess des Sichherantastens, der sich letztlich jedoch gelohnt hat. Ich bin sehr pedantisch und wusste genau, was ich wollte. Die Ideen und das Konzept standen absolut fest, zu diesem Zeitpunkt gelang es mir aber einfach noch nicht, den Gesang auch optimal umzusetzen. Das war anstrengend und es gab durchaus auch Momente, in denen ich die Brocken fast hingeschmissen hätte.

Was hat Dich davon abgehalten, bzw. warum hast Du weitergemacht?
Irgendwann hat mein Bassist gesagt: „Richard, die Songs, die du geschrieben hast, kannst eigentlich nur du singen, den Job kann gar kein anderer machen.“ Von diesem Punkt an war klar, dass ich da wohl nicht drum herum komme. Ich habe dann auch Gesangsunterricht genommen, in dem es initial darum ging, zu lernen, sich optimal öffnen zu können.

Singen hat ja auch wahnsinnig viel mit Psychologie zu tun.
Singen ist nur Psychologie! Es geht darum, sich zu öffnen, eine Persönlichkeit zu entwickeln und das, was man sagen will, eben auch so rauszulassen.

Es ist ein wenig überraschend, dass ausgerechnet Du als erster Rammstein-Musiker ein Soloalbum machst.
Vielleicht. Das Bedürfnis, mal meinen eigenen Kram zu machen, war schon immer sehr präsent. Gedanklich begann das eigentlich schon mit meinem Umzug nach New York. Ich habe mein gewohntes Umfeld verlassen, weil mich Berlin, künstlerisch nicht mehr inspiriert hat. Es gab damals bei mir die Stadt betreffend einen gewissen Sättigungsgrad, es haben eine Menge Dinge eine Rolle gespielt. Die Inspiration, die mich in New York überkommen hat, durch dieses neue Umfeld, diese neue Identität, dieses neue Leben hat eine Menge Ideen freigesetzt.

Und dort, in New York, hast Du dann angefangen für Emigrate zu schreiben?
Genau, da ging’s los.

Der neue Anfang in New York wurde allerdings ziemlich bald durch Deine Scheidung auf eine harte Probe gestellt, oder?

Trennungen und Schmerz sind was den kreativen Prozess betrifft sehr wichtige Faktoren. Zumindest für mich. Das geht soweit, dass ich mitunter erlebte Dramen bewusst abrufe.

Kreativ tätige Menschen brauchen Drama ja auch irgendwie. In gewisser Weise sind diese Berufe ja ohnehin eine Form von selbst gewählter Einsamkeit.
Genau. Es gibt Leute, die können das gar nicht und brauchen ständig den Austausch mit der Gruppe. Was mich betrifft, ist eine gewisse Form von Einsamkeit gerade im Frühstadium einer Idee sehr wichtig für mich.

Im Vorfeld gab es abenteuerliche Spekulationen, wer nicht alles bei Emigrate dabei sein sollte. Placebos Stefan Olsdal zum Beispiel.

Hab ich auch gelesen. Keine Ahnung, wo das herkam. Es gab nie Pläne in dieser Richtung. Die Leute, mit denen ich jetzt zusammen arbeite, kenne ich alle schon seit vielen Jahren.

Ist der Name ein Bekenntnis zum Bandformat? Man hätte das Ganze ja auch Richard Z. Kruspe nennen können.
Solo-Projekten habe ich immer sehr skeptisch gegenüber gestanden. Mir ging es bei Emigrate zu keinen Zeitpunkt darum, einfach nur mein Ego abzufeiern. Emigrate ist mir sehr wichtig, und ich werde das Projekt auf jeden Fall weiterführen. Zu welchen Anteilen kann ich jetzt noch nicht genau sagen, aber es wird definitiv weitergehen.

Hält Dich die Arbeit mit Emigrate in gewisser Weise auch frisch? So ein Riesenapparat wie Rammstein hat ja immer auch etwas sehr Institutionalisiertes und Schwerfälliges. Das macht Euch sicher noch Spaß, sonst würdet Ihr das wohl nicht mehr machen, aber da spielen ja schon Routinen und feste Grenzen mit rein.

Rammstein hat einfach etwas Großartiges geschaffen, weil die Summe größer ist als ihre einzelnen Teile. Ich hab ein paar Jahre gebraucht, kann mich aber dieser Sache, dieser Idee Rammstein inzwischen sehr gut unterordnen. Mittlerweile geht es für mich gar nicht mehr in erster Linie darum, etwas mit der Band zu machen, ich arbeite für Rammstein. Rammstein ist auf jeden Fall eine Sache, die für sich und auch über mir steht. Dem kann ich mich gut unterordnen.

Gib es für Rammstein ein natürliches Ende? Einen Punkt, wo ihr sagen würdet: Bis hierhin und dann ist auch mal gut.
Alles hat seine Zeit, da könnten wir jetzt lange philosophieren. Wir können auch darüber reden, dass ich irgendwann sterben werde – das ist auch klar. So lange wir mit unserer Musik die Menschen erreichen und Ideen für neue Musik haben, werden wir auch weiter machen.

Würdest Du sagen, Du hast Spaß an der Musik?
Spaß ist für mich Urlaub am Strand, Segeln und so weiter. Im Zusammenhang mit Musik empfinde ich Reibung und Energie, die von der dunklen Seite kommen, interessanter.
Es gibt ja einen ganz klaren psychologischen Grund, warum man diese ganzen Dinge tut, ich glaube, es ist wie eine Sucht. Muss man sich selbst therapieren, um andere Formen der Bestätigung zu finden.

Wie ist das denn organisatorisch. Du lebst jetzt schon hauptsächlich in New York, oder?
Das geht ganz gut. Ich versuche, monatsweise nach Berlin zu pendeln. Mein erster Wohnsitz ist klar New York, natürlich bin ich aber auch oft in Berlin.

Was sind das für Geister der Vergangenheit, was für Dinge in Berlin und Deutschland, die Du hinter dir lassen wolltest?

Destruktion, Drogenprobleme, alles Mögliche. Generell empfinde ich Berlin als sehr destruktiv. Als ich gestern hier ankam, ist mir klar geworden: Ich mochte Berlin nie richtig. Ich habe die Stadt und ihre Menschen immer als elitär und kalt empfunden.

Aber ist dieses Elitäre, der Glaube an die eigene Einzigartigkeit nicht ein Problem beinahe jeder internationalen Großstadt?
Meiner Erfahrung nach nicht. Jedenfalls empfinde ich es in New York nicht so. Dort herrscht ein weitaus offeneres Flair, auch wenn das vielleicht eine oberflächliche Offenheit und Freundlichkeit ist. Es ist auch eine Energiefrage, das kann man schlecht erklären. Ich bin ein sehr energetischer Mensch, achte auf Schwingungen. In New York fühle ich mich viel befreiter, weniger bedrückt und mehr als Teil des Ganzen.

Ich finde aber, dass Berlin sich da auch sehr gewandelt hat in den letzten Jahren. Dieses Kalte und Destruktive hatte in gewisser Weise sicherlich das Westberlin der Achtzigerjahre, obwohl da natürlich auch eine gewisse Anziehungskraft drin lag.

Klar, das zieht natürlich eine Menge Leute magisch an. Aber irgendwann muss man sich eben entscheiden. Es gibt ja genug Beispiele von Iggy Pop bis Nick Cave dafür. Nick Cave hat irgendwann gesagt, ich muss hier raus, sonst gehe ich drauf. Natürlich hat sich seitdem viel geändert. Durch viele Menschen aus anderen Ländern findet auch eine neue Offenheit statt, die ich aber inzwischen vielleicht auch gar nicht mehr so mitbekomme, weil ich zu selten hier bin und wenn, dann meistens zu arbeiten habe. Es hat schon alles seine Berechtigung, wie Berlin heute beschrieben wird. Aber für mich ist klar, dass ich hier einfach nicht mehr hingehöre, weil mir die Stadt nicht gut getan hat.

Dabei wird Berlin ja relativ häufig mit New York verglichen. In den letzten Jahren gibt es ja zunehmend auch eine gegenläufige Entwicklung – dass verstärkt Kulturschaffende aus den USA und anderen Ländern hierher kommen.
Da hat aber oft auch nur ökonomische Gründe. Berlin ist eine Stadt, in der man als Künstler gut leben kann.

In New York wird Geld verdient, nach Berlin kommt man wegen der billigen Preise, des Nachtlebens und der kulturellen Attraktivität.

So ist es. Wenn man mich fragt, warum das in New York funktioniert mit so vielen unterschiedlichen Religionen und Hautfarben, dann ist die Antwort ganz einfach: Geld! Geld ist die Religion in New York und der ordnen sich alle unter. Ich bin da natürlich sehr privilegiert, weil ich einfach in Ruhe leben kann, ohne viel dafür tun zu müssen und mich nicht an diesem täglichen Spiel beteiligen muss. Insofern sehe ich mich als neutraler Beobachter, genieße dieses Spiel aber. Den täglichen Kampf und seine Darsteller empfinde ich als sehr inspirierend. Berlin war mir diesbezüglich irgendwann zu safe.

Allerdings hat die Attraktivität New Yorks in den letzten Jahren ein bisschen nachgelassen, da man insbesondere nach dem 11. September durch Überregulierung und erhöhte Preise den freiheitlichen Geist der Stadt stark in die Schranken verwiesen hat.
Wenn man über die Limits des Kapitalismus redet, stößt New York natürlich ganz klar an seine Grenzen und wird irgendwann auch Probleme bekommen. Die Stadt wird in jedem Sinne extrem kommerzialisiert. Da finden Verdrängungsmechanismen statt, zum Beispiel auf Kosten unabhängiger Künstler, die immer mehr in die Randgebiete abgedrängt werden. Wenn das so weiter geht, muss man irgendwann noch mal woanders hingehen. Vielleicht komme ich dann ja auch zurück! (lacht) Ein Traum von mir wäre irgendwann am Wasser zu leben, aber den hat ja wahrscheinlich jeder.

Kochst du noch? Du bist ja gelernter Koch.
Weniger in New York. Ich bin nicht so sehr der Clubgänger, dadurch ist eine wichtige soziale Komponente meines täglichen Lebens der abendliche Restaurantbesuch.

Hast du einen Kochtipp?

Das Wichtigste beim Essen sind Temperatur und Zeit. Deshalb schmeckt es bei Oma ja auch immer am besten – weil die sich die Zeit nimmt.

Hört deine Tochter Rammstein?
Mitunter. Nicht mehr soviel wie früher, als ich sie gerne als Indikator beim Bewerten neuer Ideen gefragt habe. Kinder sind ehrlich und sagen frei heraus ihre Meinung, das war sehr hilfreich. Inzwischen hört sie hauptsächlich HipHop.

Spaß gehört für dich zum Strandurlaub hast du vorhin gesagt. Statt nun aber Pause zu machen arbeitest du schon wieder mit Rammstein an einem neuen Album, hast du manchmal Spaß?
Ich bin nicht so der Typ Urlauber, definiere mich extrem über Arbeit. Das ist zwar spirituell betrachtet vielleicht nicht unbedingt die Vollendung, aber für mich ist Songschreiben wie Urlaub. (lacht)

Text: Michael Jäger