Nun fahre ich also aufs Sziget, eines der größten Festivals in Europa. Zwischen 350.000 und 400.000 Feierwillige verschlägt es Jahr für Jahr nach Budapest, um knapp eine Woche lang durchzutanzen. Nach der zehnstündigen Zugfahrt kann man deshalb durchaus gespannt sein, was einen dort erwartet. Zwei Tage vor offiziellem Festivalstart, am sogenannten "Tag -1", beginnt also das längste Festival auf dem ich bisher war.

Tag -1
Mitten in der Nacht durch europäische Großstädte zu tigern – da kann ich mir weißgott besseres vorstellen. Zum Glück bin ich nicht der Einzige, der an diesem schwülwarmen Montag durch das nächtliche Budapest stromert, um sich auf dem Weg zur Donauinsel Obudai zu machen. Nach einer knappen Stunde stehe ich dann auch schon vor der Brücke, dem Zugang zum selbsternannten “Island Of Freedom". Die schlimmen Erwartungen von einem riesigen, überfüllten Areal zerschlagen sich bereits bei der Ankunft auf einem der unzähligen wunderschön beleuchteten Campingplätzen. Was die liebevolle Gestaltung aufwiegt, wird durch das Klientel schnell wieder heruntergezogen: Überall besoffene Kids, die zu Ballermannmusik versuchen, genau so besoffene Mädchen klarzumachen. Bitte wo bin ich hier gelandet? 

Schnell zurück zum Campingplatz. Meine Mitcamperin, die das Treiben bereits seit dem späten Nachmittag beobachtet, bezeichnet die Gäste dieses Abends als "wahnsinnig unprätentiös". Eine bessere Bezeichnung wäre mir im Leben nicht eingefallen. "Party till you puke", ohne Rücksicht auf Verluste – das ist hier erst einmal das oberste Gebot. Inständig hoffe ich, die nächsten Tage ein wenig mit Menschen in Berührung zu kommen, die Wert auf den musikalischen Faktor des Festivals legen. Hoffnung ist vorhanden, schließlich beginnt das offizielle Programm erst am Mittwoch. Bis dahin wird sich noch genug Zeit ergeben, um die Insel zu erkunden und die ersten lokalen Acts zu begutachten.

Tag 0

Die Hitze brüllt schon zeitig durch die Zeltwand. Gesegnet sei, wer sich ein Schattenplätzchen sichern konnte. Zum Glück haben die Veranstalter in weiser Voraussicht einen Teil des Inselstrands zum Baden freigegeben. Anders ist die Hitze auch kaum aushaltbar. Wieso dieser Abschnitt jedoch zum ersten Mal in der über zwanzigjährigen Geschichte des Festivals als Strand genutzt wird, bleibt ein Rätsel. Aber besser spät als nie.

Tagsüber bleibt genug Zeit, um die Insel zu erkunden. Schnell wird klar, dass das Festival nicht nur auf Musik ausgelegt ist. Das Sziget ist eher ein riesiger Freizeitpark: Halli-Galli-Attraktionen wie Riesenrad oder Bungeejumping haben sich ja schon auf dem einen oder anderen deutschen Festival etabliert. Doch wo sonst gibt es noch die Möglichkeit zum Watersliden, Beachvolleyball spielen und Bullenreiten? Oder wie wärs mit ein paar morgendlichen Klimmzügen? Neben den unzähligen Möglichkeiten, sich aktiv zu betätigen gibt es Theater, Kino, Kunstausstellungen und – unübersehbar – eine Bar neben der anderen für das gepflegte Besäufnis zwischendurch.

Was das musikalische Programm angeht, ist das Gelände an diesem Tag noch immer verhalten gefüllt. Vorwiegend das ungarische Publikum kommt heute auf seine Kosten. Während tagsüber wegen der Hitze beinahe gar nichts geht, schaffen es abends die Volkshelden von Quimby Csodaországban die einheimischen Besucher in Wallung zu bringen. Der Rest spart sich die Kräfte für die kommenden fünf Tage.

Tag 1

Ein Blick in den Wetterbericht lässt auf Stress schließen: Die Hitze soll die ganze Zeit über weiterdrücken. Schön zu sehen, dass sich die Organisatoren einiges einfallen lasen haben, um diesen Umstand erträglich wie möglich zu machen. Vom Gemüsehändler über die Müllmänner bis hin zu den Securities – überall sind die Mitarbeiter mit Wasserpistolen, Schläuchen und ähnlichem bewaffnet, um den Besuchern eine möglichst hydrierte zeit zu bescheren. Auch an der Vielzahl von Trinkwasserstellen können sich einige deutsche Festivals eine dicke Scheibe abschneiden. Was man von der Auswahl des Ordnerpersonals übrigens nicht erwarten kann. Die scheinen wirklich auf jedem größeren Festival gleich grimmig zu sein. 

Am zeitigen Nachmittag dann der erste Gig: Hoffmaestro geben sich im überdimensionierten A38-Zelt die Ehre. Die Schwedischen Skapunker betonen während ihres ohnehin schon verschwitzten Gigs, dass heute wohl der heißeste Tag in Europa sei. Damit können sie durchaus Recht haben. Dennoch scheuchen sie das Publikum in bewährter Manier von links nach rechts, animieren auch die hinterste Ecke zum springen und sorgen somit für eine mehr als würdige Eröffnung des Festivals. Everything Everything, die im Anschluss spielen, können sich dahinter nur verstecken. Die Band weiß ihre wundervollen Songs zwar auch live super zu entfalten – der Funke will an diesem Nachmittag jedoch noch nicht ganz überspringen.

Besonders die deutschen Besucher bekommen heute mit den Ärzten und Deichkind gleich zwei Acts geboten, die man in heimischen Gefilden wohl nicht zu Gesicht bekommt, ohne sich Stunden im Voraus durch Heerscharen von Groupies kämpfen zu müssen. Überhaupt sehr überraschend, wie wenig Deutsche letzten Endes auf dem Festival sind – Mitarbeiter munkeln von 2000. Sowohl die Hamburger Krawallbürsten als auch die Berliner Pop-Punker haben ihr Publikum jedoch in bewährter Manier vollständig im Griff und versuchen nicht einmal mit englischen Ansagen einen auf international zu machen. Zwei absolut solide Gigs – und besonders angenehm für jene Leute, die diese Bands tatsächlich noch nicht zu Gesicht bekommen haben sollten.

Tag 2

Der offizielle Tag zwei ist schon mein vierter Tag und langsam verschwimmt ein bisschen das Zeitempfinden in diesem Mikrokosmos namens Sziget. Was steht heute auf dem Plan? Viel zu viel. Der Nachmittag wird mit Ska-P an der Main Stage eingeleitet. Ska und Sonnenschein sind immer ein garant für gute Laune. Das denken sich auch die zahlreich erschienenen verschwitzten Tänzer, die der Band aus der Hand fressen. Apropos verschwitzt: Vielleicht war es keine so gute Wahl, die Dubstep-Hype-Sensation Nero in einer Indoor-Location spielen zu lassen. Nicht besonders angenehm, inmitten hunderter verschwitzter Oberkörper durch das triefende Zelt zu flutschen. Nichtsdestotrotz haben die beiden Briten mit ihrer enorm druckvollen Show bewiesen, dass der Hype durchaus gerechtfertigt ist.

Die A38-Bühne beginnt sich im Laufe dieses Tages zu meiner Lieblings-Location zu entwickeln. Obwohl auch hier Indoor gefeiert wird, passen locker 10.000 Menschen in das Zelt. Und auf welchem Festival kann man am selben Tag auf der selben Bühne feinfühligen Folk á la Dry The River, bombastischen Pop von Woodkid und anspruchsvollen Techno von Marcel Dettmann genießen? Alle Gigs durch die Bank weg eindrucksvoll. 

Zwischendurch bleibt noch ein wenig Zeit, um ein Auge auf den heutigen Headliner Biffy Clyro werfen. Den Briten gefällts sichtlich, bei mir will der Funke jedoch nicht wirklich überspringen. Also lieber wieder zurück in die A38.

Zu fortgeschrittener Stunde wage ich mich erstmalig in die MasterCard Balaton Sound presents: Party Arena (Oder kurz: Party Arena), um mir das DJ-Programm anzuhören. Was von draußen bereits auf Unheil schließen ließ, bestätigt sich innen doppelt und dreifach. Stumpfe Beats, bunte Laser. Und alles zum Quadrat. Was zum Henker an Chuckie so toll sein soll, wissen wohl nur die zahlreich erschienenen Teens aus Holland, die ihren Rausch von Montagnacht mittlerweile wohl wieder ausgeschlafen haben.  Ich ergreife die Flucht.

Tag 3

Heute steht nicht all zu viel auf dem Plan. Zum Glück! Es ist nämlich seit Tagen enorm heiß, falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte. Zudem finde ich endlich mal Zeit, die kleineren Bühnen zu erkunden. Insgesamt sind es wohl so zwischen 20 und 50. Dabei ist wirklich für absolut jeden Geschmack etwas dabei: Selbst kleine ukrainische Folklorebands oder traditionelle Irish Folk-Kapellen werden vom Publikum begutachtet und gebührend abgefeiert. Es gibt sie auf diesem Eiland also doch, die Musik-Connaisseure. 

Auf dem Weg vorbei an der Mainstage fliegen mir plötzlich hunderte riesige blaue Bälle um die Ohren. Ein Blick ins Programmheft verrät: Hier ist Beachball-Party angesagt. Einer von vier Flashmobs, die täglich vor dem Cohead statt finden und mal mehr, mal weniger zünden. In diesem Fall hat sich jeder zweite kurzerhand einen Beachball als Andenken geschnappt und ist damit zum Camp gestürmt. Kann ja auch nicht immer klappen, so eine Aktion. Aber die 10.000 Luftballons, die am ersten Tag gleichzeitig in den Himmel entlassen worden sind, waren immerhin schön anzusehen.

Später am Abend dann die bitterste Überschneidung des Festivals: Seeed vs. Booka Shade vs. Calexico. Ich entscheide mich für Booka Shade, die kurzfristig um eine Stunde nach hinten geschoben mussten. Tolle Wurst. Naja, immerhin wird mir dadurch die Auswahl ungemein erleichtet. Also vorbei an Seeed, an denen ich zugegebenermaßen beinahe hängen geblieben wär, den staubigen Rock von Calexico inhaliert. Passt in der Hitze der Dämmerung einfach perfekt.

Auf der Main Stage erwartet mich dann das erste Highlight des Festivals: Blur! Bis in die hintersten Reihen werden die Britpop-Legenden gefeiert, dass Publikum ist durchgehend textsicher und spätestens beim Finalen "Song 2" ist auch die letzte Schnarchnase auf den Beinen. Ein markiges "Woo-Hooo!" kennt eben keine Sprachbarrieren. Dieser Gig sollte auch den härtesten Oasis-Fan überzeugt haben, dass Blur zumindest gar nicht mal sooo schlecht sind.

Nachts dann noch ein zweiter Versuch in der Party Arena: Wieder Fehlanzeige. Wieder stumpfe Trancebeats und Laser, die den fehlenden Anspruch der Musik von Sebastian Ingrosso zugegebenermaßen gekonnt zu überdecken wissen. Aber vielleicht war auch einfach nur die Anlage im Eimer. Bis zum Gig von Boys Noize am Sonntag werde ich mich hier wohl nicht mehr hineinwagen.

Tag 4

Als wir am Abend die russische Ska-Punk-Band Leningrad auf der OTP Bank World Music Party Main Stage (Oder Kurz: World Music Stage) herumwüten sehen, fragen wir uns, wieso wir dieses gar nicht so kleine Kleinod nicht öfter aufgesucht haben. Mit den idyllischen Hügeln drumherum zählt diese Bühne wohl zu den schönsten Locations auf der Insel, auf der wir sicher schon den einen oder anderen Geheimtipp verpasst haben. Was solls, Leningrad waren eine Bombe und seien jedem Freund zackigen Ska-Punks ans Herz gelegt.

Mit dem Holi-Fest gibt es an diesem Tag einen Flashmob vor der Main Stage, der viele Schaulustige und Werf-Wütige anzulocken wusste. Auch hier läuft die geplante Action ein wenig aus dem Ruder und der reichlich nervige Animateur hat seine liebe Not, den Countdown herunterzuzählen, während die Menge schon tausende von Farbbeuteln durch die Gegend wirft. Schön anzusehen ist die Chose jedoch allemal. Und Hauptsache, die Besucher haben ihren Spaß, oder? Gegen Abend hin wirft das Programm indes einige Fragezeichen auf: Während Editors live natürlich immer eine sichere Bank sind und deshalb auch zurecht ihr Stelldichein auf der größten Bühne geben, fragt man sich dann doch, was die Veranstalter geritten hat, Mika als Headliner aufzustellen.

Das täglich 60.000 bis 70.000 Gäste auf der Island of Freedom unterwegs sind, merkt man am heutigen Abend das erste mal. Vor der A38-Stage staut sich die Menge. Zu viele wollen die furiose Live-Show der österreichischen Elektroswing-Sensation Parov Stelar miterleben. Erstmalig heißt es: Einlassstopp! Kein Wunder, bieten doch Gesaffelstein und Noisia im Anschluss darauf eine perfekte Dreierkombination um die ganze Nacht durchzutanzen.

Tag 5 

Nachmittags steht mit Rubik noch einmal ein absolutes Highlight auf meinem Plan. Die bisherigen Alben sind dermaßen zauberhaft, dass der feinfühlige Indiepop der fünf Finnen live erst recht Potential zum Feuerwerk hat. Dummerweise wusste die Band kaum jemand wertzuschätzen, sodass sie sich in einem beinahe leeren Zelt mit unmenschlich schlechtem Sound herumärgern mussten. Sehr schade, da zumindest der Sound bei beinahe allen bisherigen Bands durch die Bank weg zu überzeugen wusste. 

Am Abend fällt die Entscheidung nicht sonderlich schwer: Während David Guetta mit allerlei Laser, Feuerwerk und sonstigem Geflirr die Main-Stage ein letztes Mal zum beben bringt, servieren Tame Impala aus Australien parallel dazu feinsten Psychedelic Rock. Das Publikum als „aus dem Häuschen“ zu beschreiben, wäre hier noch maßlos untertrieben. Von allen Himmelsrichtungen kommen die Fans crowdgesurft, Rollstullfahrer inklusive. Dass das Publikum am finalen Tag noch mal richtig einen drauf machen wollte, bekam man schon wenige Stunden zuvor beim Gig von Franz Ferdinand mit. Auch neue Songs wie „Right Action“ oder „Evil Eye“ fügen sich superb in die Setlist ein, zünden live aus dem Stand heraus und machen mächtig Laune auf das neue Album. Als wären die sympathischen Briten nie weg gewesen.

Ein drittes und letztes mal gebe ich der Party Arena des Nachts noch eine Chance. Dieses Mal allerdings aus gutem Grund: Boys Noize soll für dieses Festival mein Abschluss sein. Erstmals gab es auch dort die wohlverdiente Extase. Herr Ridha versohlte dem Feiervolk noch einmal richtig den Hintern mit seinem Live-Set, das auch schon auf der Alterna-Stage von Rock am Ring hervorragend funktionierte.

Als die letzten Stunden vom Sziget schlagen, krabbel ich halbtot ins Zelt. Dabei wird mir bewusst, dass ich eine Vielzahl der über 50 Örtlichkeiten entweder nicht besucht habe, oder bisher noch nicht mal über deren Standpunkt im Klaren bin. Jahrmarkt, Tarot-Labyrinth, Zirkus…es gabeinfach viel zu viel zu sehen. Und das, obwohl ich beinahe eine Woche auf der Insel verbracht habe. Vielleicht wird’s ja beim nächsten Mal was. Bis dahin sollte ich mir erst einmal überlegen, wie ich nach Hause komme. Im ganzen Trubel hab ich nämlich völlig verschwitzt, mich um die Rückfahrt zu kümmern. Aber das kann wohl nur ein gutes Zeichen sein.

Text und Fotos: Danilo Rößger