Nennt man das hier Erwachsenwerden? Ist das etwa eines der Symptome? Und wenn ja, warum hat die Sache mit dem Reiferwerden, dem Groß-und-stark-Sein im Rock’n’Roll-Kontext nur so einen zweifelhaften Klang?

Vielleicht deshalb, weil es sowieso völlig am Kern der Angelegenheit vorbeiginge, wenn wir jetzt behaupten würden: Die Band Schrottgrenze wird mit dieser Platte endgültig erwachsen. Bei Musik funktioniert das nämlich ganz anders als bei Menschen. Wenn sich Musik weiterentwickelt, dann ist das eine Frage von fortgeschrittenem Design. Eine Frage des Dazulernens auf allen offenen Kanälen. Vielleicht auch eine Frage der verbesserten Sehschärfe – es soll ja auch Leute geben, die zwar eine Vision haben, aber zu kurzsichtig sind, um sie richtig zu erkennen. Und es gibt Leute wie die vier von Schrottgrenze, bei denen über die vielen Jahre des Band-Bestehens (2007 werden es 13!) sich immer mal wieder eine neue Vision über die alte geschoben hat. Das man dabei erwachsener wird, lässt sich kaum vermeiden. Man wird ja auch innen röter, wenn man Erdbeeren isst.

„Schrottism“, das insgesamt sechste Album der Band, hat ja schon im Titel den salopp gestellten Anspruch: Dies könnte ihr Manifest sein, in dem auch all das irgendwie enthalten ist, was vorher war, „die Welt durch die Augen von“, das Prinzip Schrott, geordnet nach den entscheidenden Punkten. Und obwohl die Band protestieren würde, wenn man dies als ihr Schlüsselalbum bezeichnen würde, weil sie naturgemäß fast alle Platten gleich lieb haben – „Schrottism“ ist zweifellos die Platte, die Schrottgrenze endlich in den Kosmos der großen deutschen Rockbands befördern wird. Auch das ist ein Zeichen der Reife: Heute hätten sie auch nichts mehr dagegen, dort mal anzukommen.

Am Anfang stand jedenfalls die Musik, die man in Jugendhäusern macht und die einem die Möglichkeit gibt, mal die Narrenkappe und mal die Streitmütze aufzuziehen: Als Schrottgrenze 1994 – im Todesjahr Kurt Cobains – in Peine als Schülerband zusammenfanden, spielten sie Punkrock. Schon damals übrigens mit so viel Feinstruktur und Gewitztheit, dass mancher alte Lederjäckler sich wunderte, aus welchem Brunnen diese Jungs wohl gekrochen waren. Der Musikerkranz um das Kernduo Alex Tsitsigias (Gesang, Gitarre, Hauptsongwriter) und Timo Sauer (Gitarre) wechselte ebenso wie die Plattenfirmen, die Geschichte blieb ereignisreich, das Werk der Band changierte langsam und organisch pulsierend von, sagen wir mal: raue Musik mit feinen Texten zu feiner Musik mit rauen Texten. Nun ja, mehr oder weniger rauen. Definitiv keine Kleingarten-Liebeslyrik, wie man sie von manchen Leuten kennt, die in Deutschland schon etwas länger als Stars gelten.

Bisheriger Höhepunkt war zweifellos der Wechsel zu Motor Music und die Veröffentlichung des Albums „Château Schrottgrenze“ 2006. Viele Hörer fragten sich, warum sie von dieser unwahrscheinlichen Band aus (mittlerweile) Hamburg noch nie etwas gehört hatten. Der Song „Am gleichen Meer“ genoss sogar eine langwöchige Rotation beim legendären „Smart Club“ im Münchner Atomic Café, der eigentlich ein Britpop-Abend ist.

Und schon wieder hat sich Einiges geändert: Schlagezuger Caddy hat sich komplett ins Studium verabschiedet und wird ab sofort von Benni Thiel ersetzt (Monochords, Good Heart Boutique). Herr Pohn sitzt an seiner Diplomarbeit, am Bass vertritt ihn derweil Christoph Kohler von Junges Glück, kein Unbekannter im Schrottgrenze-Universum. Im Mai 2007 wurde gemeinsam mit Peta Devlin (Die Sterne, Superpunk, Stella) das Hamburger Soundgarden Studio bezogen, dessen Türen zahlreichen Freunden wie Max Müller (Mutter), Christof Jessen (Das Weeth Experience) oder Deniz Jaspersen (Herrenmagazin) offen stand und auf „Schrottism“ als Gastmusiker zu hören sind.

„Schrottism“ kommt jetzt, mit zwölf, vom Großmeister Tobias Levin (Kante, Tocotronic, 100 andere tolle Bands und auch schon „Château Schrottgrenze“!) gemischten Songs, nicht nur wie aus der Pistole geschossen, der Herbst bringt auch gleich die passende Tournee.

Worauf man gespannt sein darf? Auf die großartigsten, wie Gebäck und Metall geschichteten Gitarren, die je auf einem Schrottgrenze-Album zu hören waren. Transparent und treibend, Stakkato und Wildverbiss, dazwischen auch mal funky. Musik, die wirklich ganz oben mitspielt. Alles, was R.E.M. und The Cure jemals richtig gemacht haben, potenziert mit den Lemonheads, Sonic Youth, auch Bloc Party oder einer anderen Neo-Britrock-Band nach Wahl – aber Verwechslungsgefahr besteht nicht, denn Alex Tsitsigias’ Gesang bleibt eine der prägnantesten Stimmen des Landes, traurig und erhebend zugleich. Und ein weiteres Mal entpuppt er sich als Imperator der letzten Strophe, in der oft der ganze Song seinen Plot-Twist bekommt. Was hier surreal ist und was Metapher, was von Kunstgalerien beeinflusst ist und was von belauschten Unterhaltungen im Café, das kann man zum Glück selbst vermuten. Oder entscheiden.

Es geht auf jeden Fall irgendwie um die schmerzhafte Reibung zwischen Welt und kritischem Geist, wenn Alex singt „Ich würde den Posten gerne schmeißen/ Man ist hier immer schlecht bezahlt/ Man kommt ganz schnell in die Miesen/ In Verhältnissen dieser Art.“ Mensch, ist das nicht doch Punk? Und dann kommt „Hinterland“, und kurz bevor das magisch verdrahtete Gitarrensolo in den Song fällt, stößt Alex einen Schrei aus, als ob er von seiner tektonischen Platte aus in eine andere Dimension hechten würde. In dieser Dimension spielt die Platte. Wenn wir uns darauf bitte einigen können.

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