Eine Zeit lang sprach man viel über das einzigartige Album des Wu Tang Clans – Once Upon a Time in Shaolin sollte den Musikmarkt verändern. Nun, sieben Jahre später, ist es  still um das Album geworden. Anstatt der Veränderungen hat es Offenbarungen mit sich gebracht: Selten wurde so eindrucksvoll demonstriert, wie wichtig Geld für den Kunstmarkt ist – und wie unwichtig die eigentliche Kunst. Verfolgt man die Geschichte des Albums, wird dies schnell klar.

 

         Es ist ein ungewöhnlich kalter Winterabend in New York. So kalt, dass man beinahe das Gefühl hat Künstler und Moderator:innen fühlen sich verpflichtet, dies wieder und wieder zu betonen. Nicht, dass jemand noch vergisst, welches Opfer man für sein Hiersein erbracht hat. Denn es ein sehr exklusiver Abend: Heute, nur heute, und nur im Museum of Modern Art, werden die Anwesenden die vielleicht einzige öffentliche Vorstellung der einzigen Pressung des neuen Wu-Tang Clan Albums hören. Das Album, Once Upon A Time in Shaolin, soll zu diesem Zeitpunkt noch versteigert werden. Kopien wird es voraussichtlich keine geben; kommerziell vertrieben werden darf es erst in 88 Jahren, also im Jahre 2103. 


Dieser ominöse Abend im März 2015 ist keine Stunde vom Geburtsort des Wu-Tang Clans entfernt und doch in einem anderen Universum. Alles soll die Anwesenden daran erinnern, dass es hier um Kunst geht. Vor allem teure Kunst – man befindet sich schließlich auf einer Auktion. Der Mann, der den Wu-Tang Clan ankündigt, Alexander Gilkes, ist Vertreter des Auktionshauses und betont explizit den Erfolg und die Verkaufszahlen der Gruppe. Er ist ausserdem überaus begeistert bekannt zu geben, dass sich mit diesem Abend eine Ära dem Ende zuneigt, in der Musik zugänglich sei. Richtig gehört.

…aber was ist eigentlich Kunst?

Als der Wu-Tang Clan (oder besser: RZA und sein Schützling Cilvaringz) auf die Bühne kommen, reden sie viel über den Wert und die Bedeutung von Kunst. Dass Kunst in der modernen Gesellschaft nicht mehr wertgeschätzt wird — genauer gesagt, dass niemand mehr genug Geld für Kunst zahlt. Je länger man ihnen zuhört, desto mehr merkt man, dass sie zwar die moderne Kunstindustrie zu Recht kritisieren, aber mehr Teil dieser Industrie sind, als es ihnen lieb sein würde. Und dass keiner der beiden wirklich Ahnung hat, was Kunst eigentlich ist.


Keineswegs war das immer so: 1993, dreiundzwanzig Jahre zuvor, nahmen die Mitglieder des Wu-Tang Clan’s in New York’s Staten Island Tracks auf, die das Genre definieren würden. Songs inspiriert vom harten New Yorker Alltag, und dennoch voller Wortwitz, gespickt mit den feinsten Martial-Arts-Film-Samples und sympathisch unsauberen Beats eines jungen RZA. Dieser schustert trotz wenig Geld und fehlendem musiktheoretischem Wissen Beats zusammen, die in ihrer rauen Ehrlichkeit ihresgleichen suchen. Das erste Album, Enter the Wu-Tang (36 Chambers), ist Produkt seiner Zeit und dennoch zeitlos. Kurzum: Ein künstlerisches Meisterwerk. Journalist:innen schwärmen von der ehrlichen und unkommerziellen Erinnerung an vergangene Zeiten eines Genres, welches sich immer mehr um Stil statt Substanz dreht. Das scheint beinahe surreal, weiß man um die turbokommerzielle Zukunft, die dem HipHop der 90er Jahre folgen sollte.

Enter The Wu-Tang Clan und die Vielzahl an erfolgreichen Solo-Alben der einzelnen Mitglieder waren schon in den 90er Jahren legendär. Danach verfolgten die diese unterschiedliche Projekte und verloren sich und ihre Inbrunst ein wenig. Kein Album der Gruppe konnte an den Erfolg des Erstlingswerks anknüpfen. Ende der 90er Jahre schlich sich dann – durch erfolgreiche Beharrlichkeit – Tarik Azzougarh alias Cilvaringz in die Gruppe ein. Der holländisch-marokkanische Produzent, Rapper und Lehrling RZA’s zeigte sich in den Nullerjahren immer öfter an dessen Seite; in zeitgenössisch riesenhaften Klamotten und nur selten ohne dem Gegenüber einen Blick von oben herab zu schenken. Auch wenn sich sein Debutalbum (sein bisher einziges) nicht herausragend verkaufte, wurde schnell klar: An Selbstüberzeugung mangelte es Azzougarh nicht.

Mit seinem Schützling geht RZA auf Welttournee. In Ägypten gelangen sie durch einen Kontakt nach offiziellen Besuchszeiten auf die Cheops-Pyramide. Vom monumentalen Bauwerk inspiriert, entschließen sie, etwas zu schaffen, dass die Zeit überdauern wird. So erzählt es Cilvaringz am besagten Abend im MoMa. Es wird an diesem Abend oft von Privilegien gesprochen: Das Privileg der beiden, ungestört auf der Pyramide zu sein; Cilvaringz’ Privileg RZA als Mentor zu haben; das Privileg der Gäste, das Album hören zu dürfen. Noch heute kann man das Event im Internet sehen. Nur das, was den privilegierten Status ausmacht, ist weggeschnitten: Die 13 Minuten Hörprobe. Ohne den Mitschnitt fühlt es sich aber ein bisschen so an, als würde dem:der Zuschauer:in eines ständig unter die Nase gerieben: Du gehörst nicht dazu.

Wäre das Album schlecht – halb so wild. Aber Berichte zeigten sich begeistert: Der Geist der 90er war wohl wiedergefunden, Cilvaringz ließ die Mitglieder ihre Reime wieder und wieder aufnehmen, um einen rauen, druckvollen Sound zu erhalten. Erste Rezensionen sprachen auch von einer Rückbesinnung auf die Soundlandschaft eines von Robert Moses’ gebrochenen New Yorks der 90er und von Chören, die voll religiöser Inbrunst “Wu-Tang!” durch die Lautsprecher schreien. Aber je mehr RZA und Cilvaringz über das Album preisgaben, desto mehr wurde klar — ein wirkliches Wu-Tang Album ist es nicht. Die beiden produzierten zusammen die Beats, die einzelnen Mitglieder des Wu-Tang Clans wurden separat eingeladen und dafür bezahlt, auf dem Album zu rappen. Sie wussten nicht mal, dass es ein Wu-Tang Album werden sollte.

Keine brüderlich-entspannte Atmosphäre, wie bei Enter the Wu-Tang — damals wurde es aus finanzieller Not noch eng im Studio; die Mitglieder mussten um die Wette texten um auf Tracks zu erscheinen. Während der Eastcoast/Westcoast Konflikt erste Opfer forderte, lebten die gebürtigen New Yorker in Kalifornien. Laut Method Man kein Problem, denn jeder habe gewusst, dass hier nichts gekünstelt war – der Wu-Tang Clan war real. Es war klar gewesen, dass es bei Enter The Wu-Tang nicht vorrangig um Geld ging, sondern darum, von einer Lebensrealität zu berichten. Das Album brauchte kein vorsätzlich entwickeltes Konzept; es wurde zu Kunst allein durch die Erfahrungen und Emotionen, von denen die neun Jungs aus Staten Island mit brillanter Wortgewalt erzählten.

“Klaut mich!”

Etwa ein Jahrzehnt vor Enter the Wu-Tang wurde die erste einmalige Pressung eines Albums verkauft. Jean-Michel Jarre’s Musique Pour Supermarché entstand als Musik für eine Kunstausstellung über Konsum. Jarre verbrannte die Mastertapes nach einer einzigen Pressung und verkaufte das Album für gut 70,000 Francs (gut 10,000 Euro). Zuvor spielte dieser das Album in seiner Gänze im Radio – mit den Worten “Piratez-moi!” (Klaut mich!). Nicht, dass man Fans mit Kassettenrecordern das noch hätte sagen müssen. Das Album ist in verschiedenen Versionen im Internet hörbar, zusammengeschnitten aus Soundschnipseln verschiedener Fans, die dadurch alle Teil eines Gesamtkunstwerks wurden. Oder, wie Jarre es formulierte: “The music for everybody can also be be the music for each of us individually.” Jarre hat ein dezentrales Kunstwerk geschaffen: Jeder Fan ist gleichzeitig Künstler. Ein Vorläufer einer modernen Open-Source-Kunst.

Cilvaringz’ und RZA’s Ansicht auf Kunst ist jedoch eine andere — je wertvoller das Objekt, desto besser die Kunst. Nach der Ansicht der beiden soll das Konzept des Albums den unabhängigen, kleinen Musiker stärken. Denn dieser muss ja heutzutage seine Kunst auf Streamingplattformen anbieten und pro Song nur noch Centbeträge kassieren. Damit liegen sie nicht falsch. Laut Cilvaringz schätze der Künstler sich selbst und sein Werk nicht mehr, und der Markt mache es ihm gleich. Das Album soll daher ein “Metakunstwerk” sein: Es soll Diskussionen über die Industrie und Bezahlung des kleinen Künstlers lostreten. Ein bestenfalls holpriger Lösungsansatz. Er zeugt jedoch vom Denken der beiden: Während Samplings und reger künstlerischer Austausch im Netz dominieren, pressen diese ein Album auf ein aussterbendes Medium, unhörbar für den einfachen Fan.  


“This is not for the Fans”

Spätestens jetzt sollte klar sein: Cilvaringz und RZA sind nicht im Musikgeschäft. Nein. Die beiden sind in der Art Kunsthandel tätig, die üblicherweise Kunstwerke von Auktionshäusern zu Lagerhallen und zurück transportiert. Kunst ist hier nicht viel mehr als eine Wertanlage. Die Schönheit eines Kunstwerks, dessen Aussage und Bedeutung sind höchstens als Expertenmeinung interessant – denn diese steigert den Preis. Es geht nicht darum, was mit dem Kunstwerk gesagt wird, sondern darum, ein Kunstwerk so teuer wie möglich zu verkaufen. Daraus macht Cilvaringz keinen Hehl: In einem Interview betont er: “Why do we have to justify it to the fans? This is not for the fans.” Es ist eine Wertanlage, kein Kunstwerk für die Öffentlichkeit. 


Dadurch bietet es kleinen Blick auf die Menschen, die in der Lage sind, solche Kunst “wertzuschätzen”. Martin Shkreli, Hedge-Fund Manager und einst “America’s most hated man”, ersteigert das Album 2015 für 2 Millionen Dollar. Shkreli zeigte sich hier von seiner berüchtigt unangenehmen Seite. Wahlweise benutzt er das Album als Untersetzer oder droht es zu zerstören. Er verspricht aber auch, das Album nach dem Wahlsieg Donald Trumps in voller Länge abzuspielen. Zu hören waren letztendlich nur wenige Minuten per Livestream. Und diese erklingen in einer Qualität, die jede:n Musikliebhaber:in Nachts schweißgebadet aufschnellen lassen. Reines Kalkül: Allein die Art, wie die Musik abgespielt wird, zeigt, wie unwichtig sie für Shkreli ist. Statt die Kunst wertzuschätzen, inszeniert sich Shkreli als smarten Investor. Und das Album frei zugänglich zu machen, würde einen enormen Wertverlust bedeuten.

Kurz darauf wird Shkreli wegen Wertpapierschwindel zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Das Album gelangt in die Hände des amerikanischen Staates. Cilvaringz zeigte sich froh, er findet das “sexy”. Es sei eine gute Story, denn die Öffentlichkeit wisse nicht genau, wo das Album sei — die Geschichte treibt den Preis. In einer ähnlich charmanten Aussage äußerte RZA sein Entzücken über die Idee, dass Richard Branson das Album ersteigern und ins All schießen könnte. Nach der Festnahme Shkreli’s hört zum ersten Mal eine Gruppe von Menschen das Album, ohne dafür bezahlt zu haben — auf dem Discman des Staatsanwalts, inmitten von Kollegen, allesamt kichernd über den für sie unüblichen Jargon. Danach ist es lange still um das Album.

“Should have been an NFT”

Der nächste Käufer des Werkes, welches (zumindest digital) potenziell kostenlos bis in die Unendlichkeit repliziert werden kann, passt wie die Faust aufs Auge. PleasrDAO, ein NFT-Kollektiv, erwarb das Album im Juli 2021 für 4 Millionen Dollar. Das Kollektiv nennt es das “OG NFT”. Ein Vertreter der Gruppe, Jamis Johnson (bei dem man trotz Wu-Tang Shirt nie ganz sicher sein kann, ob er weiß was HipHop ist), ist sichtlich überfordert mit dem altertümlichen Medium einer CD. Er hört es letztendlich auf einem tragbaren CD-Player an, der allem Anschein nach älter als Johnson ist, und die verbrauchte Antithese zu dessen geschniegeltem Auftreten. Auch wenn PleasrDAO davon spricht, dass man die Musik mit der Welt teilen wolle, ist das Video der Gruppe, in dem Johnson beim Hören Albums zu sehen ist, nichts weiter als eine Version dessen, was Shkreli Jahre zuvor tat: Publicity und Wertdemonstration. “Should have been an NFT,” so die Gruppe via Twitter als sie das Album erwarb. Nachdem sie das Album vergangenen Oktober abholten, ließen sie Besitzurkunde als NFT prägen. Zu hören gab es bis heute nichts. 


Letztendlich muss man sich fragen: Was hat das Album für den Wu-Tang Clan und die kleinen Musikschaffenden getan? RZA ist das einzige Mitglied des Wu-Tang Clans, das aktiv an der Promotion für das Album beteiligt ist. Die anderen reden ungern darüber, fühlen sich hintergangen. Method Man sagt öffentlich, dass er Cilvaringz nicht ausstehen kann. Hat man die Doku-Serie Of Mics and Men gesehen, konnte man die Spannungen spüren, die das Album mit sich gebracht hat. Und hört man RZA über Kunst reden, bekommt man das Gefühl, es mit einem Künstler zu tun zu haben, der entweder allen Glauben an die eigene künstlerische Fähigkeit verloren hat, oder selbst gar nicht mehr weiß, warum der Wu-Tang Clan einmal erfolgreich war. Für den gemeinen Künstler hat sich – wie das eben so ist, wenn reiche Menschen Kunsthandel betreiben – rein gar nichts geändert. Ein Kunststück ist RZA und Cilvaringz dennoch gelungen: Während die Nostalgie für die 90er und Nullerjahre prägend für eine ganze Generation sind, klammern RZA und sein Schützling sich an genau die Aspekte, denen niemand hinterher trauert — Hybris und CDs. Chapeau.