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A sound never walks alone

Auferstehung oder gar Renaissance der minimalen Musik? In der Hauptstadt agiert seit letztem Jahr ein Label, das mit rasantem Tempo die Staffelstab-Übergabe aus der glorreichen Elektronik- in die Jetztzeit organisiert – mit beeindruckendem Erfolg. motor.de stellt vor: m=minimal.

(Foto: http://www.fancymoon.com)

Es lassen sich unzählige Zitate von Joseph Beuys finden, die Licht in das Leben und einsame Wirken seines Schülers Conrad Schnitzler bringen. Nicht nur der Glaube daran, dass jeder Mensch ein Künstler sei, einte sie. Beide beschworen das Talent des Einzelnen als ein beinahe allen in die Wiege gelegtes Gut – Kunst als Chance für alle, kein Privileg für wenige. Vor allen Dingen aber ist es der Ausspruch, den Beuys über das Fundament von Kreativität formulierte, der Verständnis für die “diskrete Legende” säht: “Die Liebe des selbstlos Wirkenden ermöglicht jeweils dem anderen Menschen den Seelenraum zu finden, in dem er seine eigenen, ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten uneingeschränkt entfalten kann.”

Conrad Schnitzler machte von diesen Möglichkeiten bis zum Ende Gebrauch. Wenige Tage vor seinem Tod 2011 nimmt der 74-Jährige sein letztes Album auf. Eine in 36 Einzelstücken dividierte Stunde, die den Verdienst von Schnitzler dokumentiert. “Endtime” ist das Erbe eines zurückgezogenen Experimentalisten, der ohne Labelvertrag Hunderte Platten, Kassetten und selbstgebrannte CDs veröffentlichte – die Archivwerdung des Fundus’ endete mit der Kennziffer “00/830”. Das Schnitzler-Universum beginnt in Düsseldorf als Maschinenschlosser (später wird er mit der Band Kluster Geräusche aus Fabrikhallen imitieren und den Prototyp der Industrial-Musik formen) und bekommt die ersten Fixsterne durch Beuys, dessen revolutionäres Pathos Schnitzlers Werk immerwährend durchzieht. Über das von ihm 1967 mitgegründete Zodiak Free Arts Lab, magnetischer Anziehungspunkt und Ursprung des Kraut-Kosmos’, findet die schöpferische Unendlichkeit in seiner rastlosen Autarkie ein sagenhaftes Panorama.

Conrad Schnitzler – “Zug”

“So ein Tanzrhythmus muss sehr genau ausgearbeitet sein. Dafür hätte ich gar keine Geduld. Bei mir ist Rhythmus Drive. Wie in einem Zug, unter dem die Gleise rattern”, bemerkte Schnitzler 2007 in einem der wenigen, deutschen Interviews gegenüber der Spex. Während Jens Strüver damals noch für die Fragen zuständig war, kümmert sich der DJ heute um den Nachlass des Avantgardisten. Das mit Kollege Christian Borngräber gegründete Label m=minimal gibt heute strahlende Antworten auf die Frage, wie er wohl klingen mag, der “21st century motoric electro kraut”. Daran beteiligen sich nicht nur die Labelgründer selbst, auch Kreidler-Mitglied Andreas Reihe, dessen Solodebüt mit Loop-Eskapaden und hypnotischer Repetition eine “Romantic Comedy” skizziert, findet hier eine Plattform.

Während Jungspunde wie Stabil Elite jüngst für ihre Form von Kraut-Pop bejubelt wurden, gelingt es m=minimal mit zeitloser Ästhetik die Brücke zwischen 70er-Jahre-Elektronik und dem hippie-müden Heute zu bauen. Projekte wie Kreuzberg oder J.R. Plankton exerzieren keineswegs eine Romantisierung von Referenzen oder Wurzeln. Ähnlich wie die Labels Themes For Great Cities, Italic, Karaoke Kalk oder Bureau B steht bei den Berlinern Traditionsbewusstsein einer irgendwie gearteten Retromanie gegenüber, wobei der Blick nach vorn und zurück gerichtet wird. Den Beweis treten die kommenden Veröffentlichungen an: Neben der Fortführung der Con-Struct-Reihe erscheint dieser Tage auch die erste Schallplatte von Ernstalbrecht Stiebler, einem 77-jährigen Pionier, der sich bereits in 60er-Jahren entgegen des seriellen Mainstreams mit Minimal Music beschäftigte.

Andreas Reihse – “Romantic Comedy”

Darüber hinaus werden auch Remixe von Max Loderbauer und Ricardo Villalobos erscheinen, die sich Schnitzlers “Zug” angenommen haben. Nach ihrer letztjährigen Zusammenarbeit für das Münchener ECM-Label knöpfen sich die Produzenten abermals fertiges Material vor und weben die transzendentale Aura des Meilensteins in eine stoische Dancefloor-Magie ein. Damit zeigt das Label – was dem Ableger m=maximal mit seinem ersten Artist o F F Love bereits glückte –, dass ihr Katalog auch für jüngere Generationen von Interesse sein kann.

Die Berliner Plattform wird sicherlich hier und dort als Liebhaber-Label beschmunzelt. Letztlich agieren die Macher mit deutscher Kultur- und Musikgeschichte, deren Erzählung sich hierzulande nur noch die wenigsten aussetzen. m=minimal steht für Tradition, Experimentiergeist, Aufklärung. Und im Sinne von Conrad Schnitzler auch für Freiheit. Oder wie Beuys sagte, “ob Werbung Kunst ist, hängt davon ab, wofür sie wirbt.”

Sebastian Weiß

Aktuelle und kommende VÖs von m=minimal:

Conrad Schnitzler

“Endtime”

09.04.2012

Ernstalbrecht Stiebler

“Ernstalbrecht Stiebler”

09.04.2012

Martin Brandlmayr/ Werner Dafeldecker/ Christian Fennesz

“Till The Old World’s Blown Up And A New One Is Created”

07.05.2012

Conrad Schnitzler/Ricardo Villalobos/Max Loderbauer

“Zug – reshaped and remodeled”

07.05.2012

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