Möchte man einem Zeitreisenden aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert erklären, wie heutzutage neue Musik verbreitet wird, dann sollte man ihm The Acid zeigen. Es war im August letzten Jahres, als plötzlich erst wenige, dann viele Blogs von einem mysteriösen neuen Act zu berichten wussten. Über diesen war zunächst wenig bis nichts in Erfahrung zu bringen: Nur vier songs auf Soundcloud, mit den Titeln Animal, Basic Instinct, Fame und Tumbling Lights. Das war’s. The Acid EP.

Ein Beispiel: „There’s been nothing else over the last week that’s seized my attention as thoroughly as the debut self-titled EP from The Acid […]. Almost nothing is known about the band — no band photos, member names, hometowns, labels, and no replies to my efforts to find out more — but since music this well produced doesn’t tend to fall from the sky, I’m imagining a label push and official release will be obvious soon.“

Der geübte Blog-Schreiber, in diesem Fall von I Guess I’m Floating, weiß an dieser Stelle natürlich schon, dass er Teil der Maschinerie ist. Zwei Monate später, im Oktober, ist im selben Blog von einer „Berlin band“ die Rede. Gleichzeitig wird bereits vermutet, dass RY X bei The Acid beteiligt ist, andere Namen fallen noch nicht.

Wieder einige Monate Später, Anfang 2014, wird der Vorhang endlich gelüftet: The Acid bestehen aus RY X, Adam Freeland und Steve Nalepa und veröffentlichen im Sommer ein Album: Liminal. Das war eine schwere Geburt. Man könnte nun dazu geneigt sein, hier von einer aufgeblähten Marketingmaschine zu sprechen, die über Monate hinweg durch die geradezu homöopathisch geringe Gabe von Informationen an einem Hype gearbeitet hat. Die Mitglieder der Band sollte sich hier auch auskennen: RY X heißt eigentlich Ry Cuming und machte zuvor als Songwriter auf sich aufmerksam, widmete auf seiner Berlin EP sogar seiner interims-Wahlheimat Berlin seine Musik. Seine Kollaboration mit dem deutschen Produzenten Frank Wiedemann, die die EP Howling hervorbrachte, zeigte bereits Rys Experimentierfreudigkeit in Richtung Elektronik. Und genau in diese Richtung gehen auch die beiden anderen Mitglieder von The Acid: Adam Freeland ist bereits seit Jahren als DJ und Produzent aktiv, Steve Nalepa doziert sogar über Musikproduktion (!) und betreut Bands bei der Umsetzung ihrer Live-Konzepte. Bei allen dreien pendeln die Nationalitäten zwischen Australien, England, den USA und der im Kreativsektor typischen Wahlheimat Berlin.

Diese geballte Erfahrung macht deutlich dass The Acid keinesfalls als überhöhte Hype-Band verstanden werden dürfen. Liminal wird eines der stärksten Alben des Jahres sein, ein Stück Schall das, sofern man es über die richtigen Kopfhörer oder Lautsprecher hört, näher am eigenen Hirn zu sein scheint als die eigenen Ohren.

Wir haben uns mit RY X, Adam Freeland und Steve Nalepa in Berlin getroffen, um die Ideen hinter der Säure zu verstehen. Denn, auch wenn man es nach dem ersten Anhören kaum glauben mag: Hinter der nebulösen, selbst schon kaum sichtbaren Fassade stecken echte Menschen. Und die müssen ja auch ganz normal arbeiten. Aber wie machen die das überhaupt? Songs wie Animal scheinen so in sich perfekt zu sein, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie einmal als grobschlächtige Anhäufung von Samples und Beats ihren Anfang genommen haben. Aber bleiben wir mal auf dem Teppich:

Steve: Jeder Song ist mehr oder weniger ein eigenes Universum was den Arbeitsprozess angeht. Jeder hat an einem anderen Ort seinen Anfang genommen, jeder ist auf seine eigene Art ein Abenteuer gewesen. Manchmal kam Ry mit einer Idee für den Gesang, oder mit etwas für die Gitarre, andere haben wieder einfach mit einer Textur angefangen.

Ry: Wenn wir an einem Song arbeiten, weiß ich recht schnell, wie lange zum Beispiel ein Part sein soll, in dem ich singen möchte. Es gab da schon feste Visionen, wir haben also nicht einfach mal geschaut, was so passiert. Wir haben das Material immer so weit manipuliert, bis ich dann weiter damit arbeiten konnte, auch wegen meiner Erfahrung beim Schreiben von Songs. Und wir waren dann alle drei jedes Mal involviert. Es war wunderbar, dieses gegenseitige Vertrauen zu spüren. Manche Menschen glauben, es sei immer das letzte sei was man tue, den Gesang zu einem Song hinzuzufügen. Uns ging es eher darum Raum zu kreieren, um den Elementen genug Platz zu geben. Und das hat dann immer mit der Melodie funktioniert. Es war schon ein vorsichtiges Unterfangen.

Steve: Wir hatten dabei nicht jedes Mal den selben Ausgangspunkt. Es gab oft einen bestimmten Klang, der dann ein kreativer Wendepunkt war. Manchmal ist das erst passiert, wenn man eine bestimmte Zeit lang experimentiert hat, manchmal gab es ein paar Versionen die wir aufgenommen haben, davon hat dann nichts wirklich funktioniert, aber dann gab es den einen Moment, wo man alles andere weggeworfen hat, und dann mit einer neuen inspirierenden Idee weiter gearbeitet hat. Aber wenn es dann zum Arrangieren kam, dann war das alles sehr durchdacht. Wir wollten alles so präzise wie möglich machen, aber gleichzeitig auch unerwartete Turns einbauen, bei denen man nicht weiß, was eigentlich gerade passiert. Ich wollte Momente erzeugen, von denen man sagt: „Wow, damit habe ich jetzt nicht gerechnet“. Ich selbst liebe es, wenn das in Songs passiert, dieses Überraschungsmoment.

Genau das ist es, was beispielsweise in Basic Instinct passiert, wenn plötzlich die Verzerrung einsetzt. Oder der bassige Synth in Animal plötzlich ohne jegliche Vorwarnung um die Ecke kommt und seinen Zuhörern mit einem fast schon übertriebenen „What the fuck did just happen….?!“-Moment den Mund offen stehen lässt.

Aber kommen wir zu dem, was The Acid auszeichnet: Eine gewisse Geheimniskrämerei zeigt sich eindeutig auch dann, wenn die internationale "Berlin band" auftritt. Hinter spärlicher Beleuchtung und projizierten Texturen sind die, die da eigentlich die Musik machen, kaum zu erkennen. Das Publikum blickt auf einen fernen, gut klingenden Planeten; lediglich RY X erhebt sich ab und an aus der Dunkelheit, taucht für wenige Sekunden auf, nur um dann wieder in der Atmosphäre zu verschwinden. Kurz: Die Band verhüllt sich in ihrer eigenen Kunst. Starkult geht anders.

Adam: Wir haben schon ein Problem mit Starkult. Ich denke nicht, dass irgendjemand in diesem Raum hier als „berühmt“ verstanden werden will. Es geht eher darum, dass das Werk im Vordergrund steht, nicht wir als Menschen. Wenn es also um großartige Musik und große Kunst geht, dann ist uns das wichtiger als Einzelne in den Fokus zu stellen. Gut, wenn es um Anerkennung auf einer persönlichen Ebene geht, da wir ehrliche Kunst von unserem echten Selbst kommunizieren, dann ist das wunderbar, aber wir machen das nicht dafür.

Ry: Wir sind sehr bewusst darin vorgegangen, eine eindringende audiovisuelle Erfahrung zu kreieren, gerade auf der Bühne. Und das funktioniert nicht, indem man uns ins Zentrum stellt. Auf der Bühne benutzen wir unsere Körper als Leinwände für die Projektionen, aber nicht unsere Gesichter. Es geht eher darum, eine jenseitige Stimmung mit der Show zu erzeugen, nicht einen von uns zu fokussieren.

Die mysteriös-knappe Dramaturgie ihrer Entstehung scheint weniger ein Marketinginstrument als vielmehr Teil der Inszenierung gewesen zu sein. Das Einzige, was von Bedeutung war, war die Musik. Und das ist Teil der Formel, die The Acid erst so interessant macht. Was hier entsteht, ist kein Hype, sondern eine eigenständige Sprache der Inszenierung.

Ry: Ein Hype ist ja immer etwas flüchtiges.

Steve: Für uns geht es mehr um den kreativen Prozess, zusammen Kunst zu machen, zusammen zu wachsen. Wir haben im Studio viel Zeit damit verbracht, zu brainstormen, herum zu philosophieren und das tiefere Konzept zu auszuarbeiten. Wir sind jetzt soweit, dass wir das, was wir gemacht haben, teilen wollen, weil wir wirklich stolz darauf sind, und hart daran gearbeitet haben. Es ist sehr lohnend, wenn Leute das dann auch verstehen und anerkennen, uns auf kleine Nuancen hinweisen. Das bedeutet uns wirklich viel, wenn Leute die Details finden.

Adam: Wir haben das auch schon oft genug jeweils selbst erlebt, dass Hypes kommen und gehen. Und wir haben etwas gemacht, das den Leuten wirklich gefällt, und darauf sind wir stolz. Das treibt uns ja auch an, damit weiterzumachen. Das ist das Wichtige dabei. Wenn wir weiter zusammen arbeiten, dann ist das mehr Wert als jeder Hype, für jeden von uns.

Ein weiterer Teil des The Acid’schen Klangkosmos ist die Verwendung von Samples, um den Sound mit Kanten zu versehen. In Fame geht weibliches Stöhnen eine Symbiose mit der Musik ein, die nicht pornographisch, sondern eher perfekt ausgewogen wirkt. Aber ist das wirklich echt?

Adam: Ich habe mit diesem Mädel geschlafen, im Studio, während Ry Fame gesungen hat. Sie fand wirklich gut, wie er gesungen hat [lacht].

Ry: Naja, wir haben mit Sicherheit einige interessante Klangwelten erforscht. Was man auf Fame hört, ist genau das, wonach es klingt. Aber über diese Ereignisse muss man vielleicht nicht zu ausführlich reden.

Steve: Aber das passte ja auch zu den Ideen in Fame. Es gibt diesen Kamera-Auslöser, das Stöhnen, und das Geräusch, wenn jemand in einen Pool springt. Das sind alles Dinge, die klanglich darauf hinweisen sollen, was alles dazu gehört, wenn man berühmt ist. Der ganze Song geht darum, was Ruhm eigentlich bedeutet.

Ry: Schön dass das dir auffällt! Es sind so viele abgefahrene Sachen in diesem Album…

In der Tat. Ob Hype oder nicht, Liminal ist wunderschön, unfassbar gut produziert und eine Platte mit Hirn. Und Stöhnen. Und Hirn. Vor allem Hirn.

The Acid sind eine Anti-Pop-Band. Inszeniert wird nicht der Künstler, eigentlich nichtmal die Musik. Es geht um den Moment. Den, in dem man zuhört, sieht, versteht. Früher nannte man das Kunst.

(Foto: Andrew Whitton / Text: Carsten Brück)