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“Auch das 21. Jahrhundert hat einiges zu bieten” – Alice Francis im motor.de-Interview

4,2 Millionen Seiten findet man über Google, wenn man nach dem Begriff Electro Swing sucht. Das Phänomen ist in Deutschland mehr als angekommen. motor.de sprach mit Alice Francis, der “Firstlady der neuen Swingära”. 

(Fotos: Universal Music)

“Ich muss dir sagen, dass ich noch eine Anfängerin auf diesem Gebiet bin”, gesteht sie mir gleich zu Beginn des Gesprächs. Sie lächelt dabei, es ist eines, dass sich aus Vorfreude und Nervösität speist. Ein gutes Zeichen. Ja, Alice Francis ist noch nicht geübt in diesem Frage-Antwort-Trott eines Promo-Tages. In Zukunft wird sie sich dem wohl häufiger aussetzen müssen. Ohnehin ist es ja eine tolle Gelegenheit, um der Newcomerin ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Nein, gemein sind wir nicht gewesen. Vielmehr haben wir uns mit der gebürtigen Rumänin über die erquickende Melange aus elektronischen Mitteln und Swing unterhalten – immerhin ist das Electro-Swing-Phänomen in aller Munde. 

Einen Tag nach ihrem Videodreh zur neuen Single “St. James Ballroom” (der Name ihres Debüts) treffen wir Francis im Universal-Music-Headquarter. Ja, ein Major hat sie unter die Fittiche genommen. Und ihre erste Single “Shoot Him Down” liefert auch gleich zahlreiche Gründe: Mit einer ansprechenden Mischung aus Charme und selbstbewusster Lady-Toughness ist ihr ein richtiger Ohrwurm gelungen, der nicht nur ihre Detailverliebtheit offenbart, sondern zusätzlich einen catchy Vibe transportiert. “Miss Flapperty”, wie Alice auch genannt wird, bringt den Spirit der selbstbewussten Frau aus der Swing-Ära in die Jetztzeit. motor.de sprach mit ihr über Electro-Swing und die unterschiedlichen Kulturen, die sie in ihrer Musik verarbeitet.

Alice Francis – “Shoot Him Down”

motor.de: Lass und vielleicht mit dem begrifflichen Firlefanz beginnen: Was unterscheidet denn Electro-Swing von deinem Begriff des Neo-Charleston?

Alice Francis: Das sollte gar nicht so als Abgrenzung rüberkommen. Lustigerweise habe ich erst vor einem Jahr erfahren, dass es überhaupt eine Electro-Swing-Szene gibt. Da denken die Leute dann immer schnell an Parov Stelar, Caravan Palace und Swing Republic. Wenn sie unser Album hören, sollen sie aber nicht enttäuscht sein, dass sie jetzt nicht nur die elektronischen Beats bekommen. Das wollte ich ein wenig entschärfen.

motor.de: Diese Bewegung ist ja gerade wirklich en-vogue. In Berlin gibt es ja zwei Veranstalter, für eine Großstadt relativ wenig. Siehst du das eigentlich als Bewegung, Phänomen oder Trend an?

Alice Francis: Das weiß ich nicht, ist auch wirklich schwierig zu sagen. Beim unserem Videodreh war zum Beispiel auch Else Edelstahl dabei [Edelstahl veranstaltet die “Bohème Sauvage”-Partys im 20er-Jahre-Stil, Anm. d. R.]. Sie macht das schon sehr lange, damals fing das in ihrer Wohnung an. Die Leute haben sich schick gemacht und irgendwann ist es immer größer geworden, sodass sie die Partys veranstaltet hat. Ich kann das schlecht beurteilen, weil ich noch nicht so lange von der Szene weiß, aber unser Terminkalender füllt sich immer mehr. Es gibt also viele Menschen, die sich dafür interessieren (lacht).

motor.de: Einige sprechen ja sogar von einer neuen Jugendbewegung. Was glaubst du, was interessiert die jungen Menschen an dem Swing-Revival?

Alice Francis: Ja, das habe ich auch schon gelesen. Ich kann mir vorstellen, dass mit den Jahren eine Sehnsucht entstanden ist. Die Herren halten den Damen die Tür auf, man stellt sich auch nicht mit dem T-Shirt auf die Bühne, dieses ganze Fernsehen von heute, diese Reality-Shows und möglichst übel bis zum geht nicht mehr. Und auch diese Castingshows haben auch dazu beitragen, dass die Menschen emotional ausgebeutet werden. Ich glaube einfach, dass das alles dazu führt, dass man weg davon will – back to the roots eben, wo alles detailverliebter, schnörkeliger war und auch die Umgangsformen anders waren. Die Leute wollen wieder dahin zurück.

motor.de: Nostalgie und Flucht?

Alice Francis: Flucht klingt sehr negativ. Ich glaube, es gibt auch sehr viele Menschen, die leben das. Auch ich würde behaupten, dass ich das lebe. Ich sammele alte Radios und wohne zufälligerweise auf einem alten Schloss (lacht). Nostalgie sicherlich, aber ich denke es ist vor allen Dingen eine Plattform und Möglichkeit für die Leute, nochmal so richtig auszuleben, was sie im Alltag schon im Einzelnen haben, machen, wollen (lacht).

motor.de: Kommen wir kurz zu dir: Als Newcomer ist der gängige Weg eigentlich vorgezeichnet: volksnah geben, die kleinen Clubs der Republik bespielen und sich allmählich einen Namen aufbauen. Bei dir war das komplett anders: am 1. Mai hast du ja auf dem Tempelhofer Flugfeld vor mehr als 15.000 Menschen gespielt.

Alice Francis: Das war echt krass. Wir sind ganz normal nach Berlin gereist, uns wurde gesagt, es werden 1.500 Leute erwartet. Die Bühne war ja auch sehr klein. Aber tatsächlich war der ganze Platz voller Menschen, das war einfach nur crazy. So als würde ein komplett anderer Film ablaufen. Das war der Hammer.

motor.de: Der Event war zwar kostenlos, aber irgendwie schon ein Zeichen für das große Interesse an der Melange aus Electro und Swing, oder?

Alice Francis: Wenn die tatsächlich alle wegen der Musik gekommen sind, dann ist das wohl eine Bewegung, doch eine Bewegung entsteht ja aus einem Grund. Wir sind uns aber noch nicht sicher, warum. Wenn es eine Bewegung ist, dann sind wir mittendrin oder noch am Anfang. Ich glaube es noch nicht die Zeit gekommen, das Geschichtsbuch zu schreiben.

motor.de: Was können wir denn anno 2012 von der Swing-Ära lernen?

Alice Francis: (Überlegt lange) Mein großes Vorbild ist Josephine Baker [Amerikanisch-französische Sängerin und Tänzerin, Alice sieht ihr wirklich zum Verwechseln ähnlich, Anm. d. R.]. Sie hat diesen wilden Tanz und die schönen Kleider geprägt. Sie kommt aus einer armen Familie, hatte keine einfache Kindheit und zu der Zeit war sie sicherlich auch Opfer der Rassentrennung. Durch die Musik ist sie regelrecht ausgebrochen. Sie hat gesagt, ‘Na und, ich bin schwarz, ich bin eine Frau und trage trotzdem ein Bananenröckchen’.

motor.de: Wir sollten also mehr Rebellion zulassen?

Alice Francis: Ja, das klingt ein wenig nach so einer Floskel, aber die Zeit lehrt uns auch, dass wir zu uns stehen sollten: Sei du selbst, lautet die Devise. Diese Identitätskrisen, die ganze Zeit pritscht soviel auf uns ein. Durch die Globalisierung ist die Welt immer kleiner geworden, früher war das total abstrakt. Die Swing-Szene bietet auf jeden Fall eine Plattform, um sich auch ein wenig kennenzulernen und sich auszuprobieren.

Alice Francis – “St. James Ballsroom”

motor.de: Dann kommen wir mal zu deiner Identität: Du bist in Rumänien geboren, dein Vater kommt aus Tansania. Zwei interessante Koordinaten, spürst du diese Wurzeln in deinem Schaffen?

Alice Francis: Django Reinhardt [Der Gitarrist gilt als Begründer des europäischen Jazz, Anm. d. R.] bewundere ich wirklich sehr. Vielleicht kommt von der rumänischen Seite so ein wenig die Affinität für Gypsy-infizierte Musik, aber auch die ganze Kultur fasziniert mich. Ich fühle mich selbst als Rumänin, ich bin dort geboren, das ist auch meine Muttersprache und wohne dort jetzt auch wieder. Ich fühl mich aber auch ein bisschen tansanisch, ich war zwar nur zweimal in meinem Leben dort, fühle mich aber den Leuten dort sehr verbunden. Aber ich fühle mich auch ein wenig deutsch, ich spreche ja tagtäglich die Sprache.

motor.de: Reden wir noch kurz über dein Debütalbum. Welche Kulturen finden sich denn auf “St. James Ballroom”.

Alice Francis: Johann Niegel, mit dem wir zusammen arbeiten, hat lange Zeit in Shanghai gelebt und Waldemar Para, ein großartiger Jazz-Professor, war viel in Chile und New York unterwegs. Und Goldielocks ist viel in Frankreich unterwegs, er hat auch einen VW-Bus, in dem er auch Musik macht (lacht). Gerade dadurch, dass alle Menschen, die an dem Album mitarbeitet haben, so viel rumgekommen sind, flossen diese ganzen Einflüsse nach Deutschland und wurden von uns für die LP gebündelt.

motor.de: Wie würdest du deine Arbeit beschreiben, wie gehst du vor?

Alice Francis: Ich gehe überhaupt nicht strukturiert vor (lacht). Ich habe meistens mein Handy, dann schnapp ich mir die Gitarre oder das Klavier und entwickele einzelne Ideen. Die Aufnahmen, die ich auch manchmal mit Waldemar Para abspreche, gebe ich danach zu Johann, der dann den Beat dazu bastelt. Erst am Ende bekommt das Goldielocks, der dann alles rund macht.

motor.de: Wie ist der Name entstanden?

Alice Francis: Mit Johann und mir ist das ja alles entstanden. Und das Pendent zu Johann ist James. Doch der Name ist mir eigentlich so intuitiv eingefallen, aber es ist auch ein Dankeschön und kleine Widmung, dass wir uns gefunden haben.

motor.de: Hörst du privat nur Jazz oder Swing?

Alice Francis: Nee, gar nicht. Ich höre aber sehr gerne Django Reinhardt oder Beyonce. Die finde ich super, großartig. Aber danke für die Frage, denn natürlich interessiere ich mich nicht nur für einen Stil, auch das 21. Jahrhundert hat einiges zu bieten. Live schöpfen wir das komplett aus.

motor.de: Was war denn deine letzte Platte, die du gekauft hast?

Alice Francis: “Electro Swing Republic” von Swing Republic.

Sebastian Weiß 

ELECTRO SWING CLUB am 31.August 2012

Wann
31.08.2012

Wo
Festsaal Kreuzberg
Skalitzer Straße 130,10999 Berlin

Live-Act
Alice Francis

Lineup
Egokind (Kallias)
Natanael Magersa (Kallias / Swing Thing I München) Concious (Swing Thing I München)
Dukeyduke (Jazzy Swing)


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