Klangsphären aus der Zukunft: Achtarmig greifen Amplifier ihrer Zeit voraus, lösen sich von den Fesseln ihres Labels und schaffen ein Album der Extraklasse.
Die digitale Revolution hat der Musikindustrie die Apokalypse heraufbeschwört. Die Freiheit, durch die Möglichkeit der unbegrenzten Vervielfältigung forderte einen denkbar hohen Preis. Kann geistiges Eigentum überhaupt noch geschützt werden? Wie kann ein Künstler heute überleben, wenn er nicht in der Lage ist, sein Produkt gewinnbringend zu vermarkten? Die Revolution hat ihre Kinder längst verschlungen. Lady Gaga avancierte zum postmodernen Messias der Plattenfirmen und Medienwelt, indem sie mit „The Fame“ 14 Millionen Einheiten absetzt. Heute ein unglaublicher Erfolg. Dennoch eine Zahl, die es nicht mal in die Top 50 der bestverkauften Alben schafft. Vom musikalischen Inhalt ganz zu schweigen. Letzterer wirft die Frage auf, ob die Hebelwirkung der Marketingmaschinerie die letzte bröckelnde Säule der einst übermächtigen Labels darstellt.
Im Musikgeschäft sinniert man angesichts dessen einmal mehr über vergangene Zeiten und Verkaufszahlen. Rückblick. London, 1973. Pink Floyds „Dark Side Of The Moon“ reformiert die Geschichte der populären Musik und geht dabei mehr als dreimal so oft über die Ladentheke wie „The Fame“. Zurück in die Gegenwart. Manchester, 2011. Die Musikpresse überschlägt sich mit positiven Kritiken; das Drittwerk der Briten Amplifier als legitime Erben der Kultband lobpreisen. Lauscht man den Klängen des Doppelalbums, wird schnell klar, warum. Doch noch Interessanter als die offensichtlichen Parallelen, sind die Kontraste der Entstehungsumstände und gerade hier liegt die eigentliche Sensation begraben.
„The Octopus“ könnte zum Synonym dessen werden, was Vordenker und Visionäre der Musikwelt als die Zukunft bezeichnen: Den Verzicht auf die Mittelinstanz Label. Die digitale Welt, in der wir leben, ist höchst ambivalent und zweischneidig. Während man damals etwa mit Tapeloops oder dem Einsatz des „Binson Echorec“ die Grenzen der analogen Aufnahmetechnik in den legendären Abbey Road Studios auslotete, gibt es heute jeden noch so sündhaft teuren Federhall für ein paar Euro detailgenau als Plug-In. Weltklasse Studios haben heute ein Format von 30×20 Zentimetern und wiegen zwei Kilo. Das Internet bietet eine nie da gewesene Plattform zum Selbstvertrieb und eigener Vermarktung. Leider aber auch das Potential in der Masse unterzugehen. Doch mit dem mächtigen „Octopus“ könnte die Utopie der wenigen verbleibenden Optimisten in der Musikwelt wahr werden. Das achtbeinige, zweistündige Meisterwerk ist der Beweis, dass trotz wirtschaftlicher Zwänge und trotz/dank digitaler Vorherrschaft noch zeitlos gute Musik gedeihen kann.
Amplifier – “The Wave”
Die desillusionierende Realität vorweg: Die Bezüge zu Pink Floyd sind ebenso treffend wie verdient. Dennoch wankt der Thron der legendären Psychedelic Rocker zu keiner Sekunde. Nichtsdestotrotz ein phantastisches Stück Musik, dass in mit seinem zweistündigen Ausmaß sicherlich alles andere als leichte Kost ist. Doch wer nun abgedrehte Avantgarde erwartet, liegt falsch. „The Octopus“ erfindet das Rad weder neu, noch gehen psychedelische Ausflüge zulasten von Musikalität – Alternative und Progressive Rock verschmelzen mit einer neuartigen Selbstverständlichkeit. Das Krakentier ist grundsätzlich anders, als das, was das aktuelle Musikgeschehen vermittelt. Sperrig, vertrackt, streckenweise schwer zugänglich. Doch keine Spur von übermäßiger Vergeistigung. Simplizität und Komplexe Arrangements und Songstrukturen harmonieren im gegensatzfreien Einklang.
Zunächst verzaubert the „Minion’s Song“ mit schwebend-melodischen Klangsphären, düster verklärter Grundstimmung und tiefgreifender Lyrik. Das nachfolgende „Interglacial Spell“ beginnt mit lärmender Instrumentierung und bricht urplötzlich in einer monströsen Rhythmus-Walze los, die angetrieben von einer übersteuernden Basslinie an einen nahezu unheimlich starken Groove fesselt. Der fast zehnminütige Titeltrack wird von minimalistischen Drums getragen, während der Bass mit hypnotischer Eindringlichkeit immer wieder zum Grundton auflöst. Die einsetzende Gitarre steigert mit reduziertem Pickingpattern und Akkordbrechungen die Intensität des Songs, der als absoluter Trip bezeichnet werden muss. Hier fließen alle stilprägenden Elemente ineinander. Kleinste musikalische Phrasen wachsen in den komplexen Songkonstruktionen zu unglaublicher Größe auf.
Amplifier – “Neon”
Hinzu kommt eine selten erreichte Dynamik und Lebendigkeit, die sich auch in der Produktion widerspiegelt. Mit Transparenz und klar definiertem Druck, lassen sich die einzelnen Instrumente zu jeder Zeit akustisch trennen. Analoge Wärme, überragendes handwerkliches Können und die Liebe zum Detail sind weitere Schlüsselelemente des eindrucksvollen Klanggewands. Der zweite Silberling beginnt mit den exotischen Klängen von „The Sick Rose“ und erreicht mit dem nachfolgenden „Interstellar“ einen weiteren zehnminütigen Höhepunkt des Doppelalbums. Bombast und ein weiterer Groove mit übernatürlicher Zugkraft dominieren den Song ebenso stark wie die lyrischen Schlüsselzeilen oder spacigen Effekte. Die Pink Floyd Bezüge nimmt das Trio aus Manchester mit einem spielerischen Augenzwinkern bewusst selbst auf. „Fall Of The Empire“ beginnt mit tickender Uhr, und zerstört die überdeutlichen Bezüge zu „Time“ mit dem Ruf des Kuckucks. Es folgt ein bleischweres Heavy-Riff, das sich durch den düster-schleppenden Song zieht und einmal mehr verdeutlicht, welche erstaunliche Bandbreite das dritte Studioalbum von Amplifier zu bieten hat.
Herrlich, mit welcher Konsequenz eine unbekannte Band die kommerziellen Fesseln abschüttelt und aus der Masse von gesichtslosen 08/15 Produktionen mit künstlerischem Anspruch hervorsticht. Außerdem legen Amplifier dabei ein großartiges Potential an den Tag, das die wirtschaftlichen Dogmen des Music Business vielleicht schon bald außer Kraft setzen könnte. „The Octopus“ mag nicht „The Wall“ sein, vielleicht aber wenigstens der visionäre Vorreiter einer neuen musikalischen Ära. Man darf gespannt sein.
Matthias Ziegenhain
VÖ: 18.02.2011
Label: Amp Corp/Soulfood
Tracklist:
CD1:
1. The Runner
2. Minion?s Song
3. Interglacial Spell
4. The Wave
5. The Octopus
6. Planet Of Insects
7. White Horses At Sea // Utopian Daydream
8. Trading Dark Matter On The Stock Exchange
CD2:
1. The Sick Rose
2. Interstellar
3. The Emperor
4. Golden Ratio
5. Fall Of The Empire
6. Bloodtest
7. Oscar Night // Embryo
8. Forever And More
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