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Am zweiten Tag des Melt! Klub Weekenders wurden die Feier-Verrückten mit drei Jungs aus Landau, einer kryptischen Kreatur und einer Freak-Show sondergleichen konfrontiert.
Der Druck war – wenn überhaupt vorhanden – nicht gerade klein für die zweite Ausgabe des Melt! Klub Weekender. Zwischen dem 19. und 21. Mai wurden die Vorfreudigen ins Berliner Astra gebeten, ehe es Mitte Juli zum großen Spektakel nach Ferropolis geht (motor.de berichtete). Die Veranstalter wussten bereits vorab mit einem vielversprechenden Line Up zu überzeugen: Mit Pionier DJ Shadow, Avantgarde-Rocker Animal Collective sowie dem Electro-Duo Digitalism wartete das Mini-Festival mit wahren Koryphäen ihres Faches auf.
Am Freitag startete das Vergnügen mit dem deutschen Trio Sizarr. Fabian, Philipp und Marc arbeiten neben ihrer dynamischen Musik vor allen Dingen am Abitur, sodass es bisher an einem Debütalbum fehlt. Doch ihre Show entschädigt für derlei Mängel. Als die Herren die Bühne betreten, brandet zaghafter Applaus auf. Was wie ein afrikanisches Stammesritual beginnt, mausert sich im Laufe der 45 Minuten zu einem ungeheuer dynamischen Trommelfeuer: Die drei Jungs aus Landau bieten einen abwechslungsreichen Mischmasch aus Hip Hop, Weltmusik, Electro und Rock an.
Sizarr aus Landau (Foto: Eric Siebert)
Schüchtern verkünden sie zu Beginn, dass sie heute Abend ein neues Set anzubieten hätten. Ja, richtig gehört: Sizarr sind keine No-Names mehr. Ob Pop Up, Melt! oder Berlin Festival – die drei Pfälzer haben im letzten Jahr einiges an Zeit und Arbeit investiert, um ihren eklektischen Mix live zu präsentieren. Sicherlich sind die Drei bei weitem noch keine Bühnen-Haudegen, dennoch fällt ihre Abgeklärtheit sofort auf. Ohne große Gesten, dafür jedoch mit fesselnden Songs wie “Boarding Time”, konnten sie unzählige Hüften zum Tanzen bringen. Sizarr sollte man auf dem Schirm behalten, da bahnt sich eine große Karriere an.
Sizarr – “Boarding Time”
22.45 Uhr. Obwohl Animal Collective erst in einer Stunde erwartet werden, ist die Vorfreude auf Janine Rostron alias Planningtorock riesig. Zunächst betritt eine glatzköpfige Frau die Bühne – mit dabei: ein Saxophon. Die Masse jubelt das erste Mal. Als die Dame mit einem beherzten Solo die Menge küsst, rasten bereits die ersten Besucher aus. Im Hintergrund laufen Sequenzen der vorab veröffentlichten Videos von Rostron’s zweitem Album “W“. Da ist es, diese beinahe inhumane Gesicht mit diesen hervorstechenden Nasenhöckern. Abseits jeder Geschlechtszugehörigkeit präsentiert sich die Wahl-Berlinerin mit einem großen W auf der Brust.
Planningtorock & ihre Saxophonistin (Foto: Eric Siebert)
Bereits mit der Eröffnung “The Doorway” gelingt es der gebürtigen Engländerin mit ihren Synthi-Wänden die Halle unter ihre Fittiche zu bringen. Ihre Stimme, ohne Frage der Markenkern von Planningtorock, begibt sich in aller sakraler Brachialität auf außerirdisches Terrain. Das tiefblaue Lichtspiel rundet die ätherische Atmosphäre ab. Obschon Rostron an diesem Abend auf wechselnde Maskeraden verzichtet (gerne zieht sie sich bei Auftritten einen riesigen Lichter-Helm auf), bleibt ihre Darbietung anomal. Songs wie “Manifesto” oder das großartige “The Breaks” stellen nicht nur die Tanztauglichkeit dieser mannigfaltigen Musik unter Beweis, gar gelingt es Rostron und ihren zwei Mitstreiterinnen das Astra in tobenden Enthusiasmus zu versetzen. Absonderlich, obskur, irrsinnig – schlichtweg ein wahnsinnig gutes Konzert.
Die Wahl-Berlinerin Janine Rostron (Foto: Eric Siebert)
Eben zugänglicher wurde es im Folgenden keineswegs. Als Headliner bereitete die Avantgarde-Formation Animal Collective dem Berliner Publikum einen ordentlichen Audio-Einlauf. Der Sonntag war keine Viertelstunde jung, da präsentierten sich David Portner (Avey Tare), Brian Weitz (Geologist), Josh Dibb (Deaken) sowie Noah Lennox (Panda Bear) auf der Bühne. Nicht nur hierzulande sind die Vier als Feuilleton-Lieblinge verschrien, dabei ist die Band vor allen Dingen eines: herausfordernd. Nicht nur, dass das Quartett aus Baltimore sich strikt wehrte, Publikumsfavoriten wie “My Girls” oder “Daily Routine” zu spielen (diese wurden mehrmals lauthals gefordert), gar boten die als umgänglich kolportierten Typen keinerlei Stage-Small-Talk an.
Dem Gros ist es egal. Die Masse weiß zwar zuweilen nicht mit ihren Körpern umzugehen, dennoch ist es nur schwer möglich, sich dem aufwallenden Bombast zu widersetzen. Was die Formation als Mal-Eben-So-Beiwerk anbietet, ist schlichtweg eine an Geisteskrankheit grenzende Visualisierung. Auf der Leinwand sind übereinander gelegte Farb-Formen aller Art und Gestalt zu sehen: Blubbernde Blasen, flächige Umgruppierungen, verquastete und undefinierbare Konturen – der wortwörtliche Wahnsinn. Keine Chance für Epileptiker, wirklich: keine. Hinzu kommt eine etwas andere Unterrichtsstunde in Sachen Genre-Kunde: Technoide Phasen werden durch Folk – und wir reden hier selbstverständlich von Psych-Folk – abgelöst, wenngleich die paranoide Freude nur kurz anhält, denn die nächste Noise-Wand wartet bereits, darauf losgeschmettert zu werden. Das beinahe 90-minütige Treiben zielt jedoch vor allen Dingen auf zwei Schubladen, die Animal Collective derart bösartig beherrschen, dass einem Angst und Bange werden kann: Experimental Rock. Vor allem Josh Dibb lässt mit seiner Sechssaiter derart hohe Gitarrenwellen auf die Masse los, dass Anleihen zum Metal selbst die Aufgewecktesten zu überraschen vermag.
Panda Bear, Geologist, Avey Tare und Deaken (v.l.n.r.).
Für den experimentellen Teil ist in erster Linie Brian Weitz aka Geologist zuständig. Wie ein Architekt verwandelt der Tüftler mit seinen Sound-Staplungen, Paraphrasierungen und Manipulationen das Astra in einen hitzigen Rave-Tempel. Gegen das allumfassende Brummen, Fiepsen und Knarzen kämpft sich der mitunter jungendlich anmutende Gesang von Avey Tare. Noah Lennox, der erst vor kurzem sein viertes Album “Tomboy” vorlegte, liefert mit seinem forschen Spiel die – mehr oder minder – passenden Drum-Salven. Sowohl das party-taugliche “Brother Sport” als auch der Gassenhauer “Summertime Clothes” stellen definitiv die Highlights dieser Freak-Show dar. Ausgelassene Feierei, euphorisches Hüpfen, kurz: gute Laune. Zwar waren diese Momente eher rar gesät, dennoch bewiesen die Vier in dieser Nacht, dass sie sicherlich zu den beeindruckensten Live-Künstlern gehören. Auch wenn es nicht die leichtverdaulichste Live-Achterbahn-Fahrt war, bleibt der Eindruck eines einzigartigen Abends zurück. Der Melt! Klub Weekender ist spätestens seit diesem Jahr mehr als nur eine Kick-Off-Party.
Sebastian Weiss
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