Art Brut. In der Kunst bedeutet dieser Name so viel wie „Outsider Art“, Kunst die von „Ausgestoßenen“ gemacht wird. Musikalisch Ausgestoßene sind Art Brut aus London mit Sicherheit nicht. Denn ihr erstes Album „Bang Bang Rock and Roll“ wurde in der Musikpresse sehr gelobt. Und wie wird´s mit dem zweiten sein?
“Das haben wir uns während der Aufnahmen zu diesem Album ständig gesagt”, verkündet Eddie Argos, “It’s a bit complicated – es ist ein bisschen kompliziert. Daher machte es Sinn, die Platte so zu nennen.”
Kein Zweifel, mit ihrem von Dan Swift produzierten zweiten Album, dem ersten für ihre neue Plattenfirma Labels/Mute, sind Art Brut erwachsen geworden. Doch keine Angst, nur ein bisschen. “Die erste Platte war ich mit 17 Jahren, diese hier bin vermutlich ich mit 19. Wenn wir noch eine aufnehmen, wird sie mich im Alter von 21 Jahren zeigen.”
Als ausgesprochen schlagfertiger und im Grunde ziemlich unwahrscheinlicher Anführer der neuen Britpop-Welle ist der 27-jährige Eddie Argos an die Schnelllebigkeit der Popmusik gewöhnt. Es war (ein bisschen) kompliziert für die Band, die Wohnküchendrama mit französischer Philosophie kombiniert, dort anzukommen, wo sie sich jetzt befindet (wobei “dort” an internationalen Superstar-Status grenzt) – von ihren Anfängen als Speerspitze der Londoner New Cross-Szene, Klasse von 2004. Und inzwischen kennen die meisten Musikfans Eddie Argos, ehemaliger Briefträger, lebenslanger Träumer, gelegentlicher Indie-Prophet, dessen einziger wirklicher Ehrgeiz im Leben darin bestand, eines Tages bei Top Of The Pops aufzutreten.
Der TOTP-Traum mag der Vergangenheit angehören, seit die Sendung eingestellt wurde, doch ‘It’s A Bit Complicated’ katapultiert die Liebesaffäre zwischen Art Brut und der Popmusik in ganz neue Höhen. Vom ungelenk fummelnden Opener ‘Pump Up The Volume’ und der Frage ‘Is it so wrong, to break from your kiss to turn up a pop song?’ zum verstörten Tanzflächen-Melodram der neuen Single ‘Direct Hit’ oder dem wogenden, melodischen ‘I Will Survive’ führt das neue Album ihren Aufstieg in die Popelite in ein neues, schwindelerregendes Stadium.
Art Bruts Debütsingle ‘Formed A Band’ entwickelte sich zu einem Schlachtruf, welcher der Londoner Indie-Szene durch Mark und Bein ging, ein Ruf zu den Waffen für eine neue Generation, die fest dazu entschlossen war, sich über alles und jeden lustig zu machen.
Anschließend stieg Art Bruts Stern unaufhaltsam weiter. Die nächste Single, eine “stream of consciousness”-Ode an eine unerwiderte Liebe mit dem Titel ‘Emily Kane’ schlitterte um Haaresbreite an einer Top 40-Platzierung vorbei – allerdings nur wegen eines administrativen Fehlers, der dazu führte, dass die Download-Verkäufe nicht mitgezählt wurden. “Aber das finde ich irgendwie gut“, meint Eddie, “denn mit ‘Emily Kane’ hat es ja letztendlich auch nicht geklappt. Also in jeder Hinsicht eine Enttäuschung.” Ihr Debütalbum ‘Bang Bang Rock’n’Roll’ erschien schließlich bei Fierce Panda, und dann kam alles schneller, als Eddie es sich je hätte träumen lassen.
Die Vorgehensweise, ‘Bang Bang Rock’n’Roll’ in einem Land nach dem anderen zu lizensieren, machte sich insbesondere in Deutschland bezahlt. “Ich glaube, die Leute finden mich intelligenter, als ich tatsächlich bin”, fährt Eddie fort. “Sie hielten ‘Bang Bang’ sogar für ein Konzeptalbum.” Als es dann richtig losging, spielten Art Brut zwei Konzerte mit Oasis in Hamburg. “Liam Gallagher stand an beiden Abenden neben der Bühne, klatschte und tanzte”, erinnert sich Eddie ehrfurchtsvoll. “Während ‘Modern Art’ hüpfte er herum und rief ‘Mein Lieblingsstück! Steh’ ich total drauf!'” Später in der Garderobe schenkte Eddie Noel Gallagher ein Exemplar von ‘Bang Bang Rock’n’Roll’. “Er sagte: ‘Oh, hab ich schon’, und sang eine Passage aus ‘My Little Brother’. Ich erklärte ihm, dass sich die Erfahrung, vor Oasis zu spielen, so anfühlte, als würden Half Man Half Biscuit U2 supporten. Er meinte, dass er Half Man Half Biscuit klasse findet und sang mir ‘Trumpton Riots’ vor. Das war der unwirklichste Augenblick meines Lebens.”
Allerdings noch gar nichts im Vergleich zu dem, was in Amerika abging, wo die Band auf der einflussreichen US-Musiksite Pitchfork Media mit Lobeshymnen überhäuft wurde und der Rolling Stone ‘Formed A Band’ zur Single des Jahres kürte. Spin wählte Art Brut unter die 15 besten Live-Bands der Welt, und Art Brut traten in der renommierten Jimmy Kimmel-Talkshow auf. “Ich bin sowieso immer ziemlich nervös”, gesteht Eddie, “aber das war regelrecht Furcht einflößend, weil es Live-Fernsehen ist, amerikanisches Fernsehen. Man kennt die Amerikaner ja, sie sind sehr begeisterungsfähig. Da wurde mir bewusst, dass es ganz gut für uns lief.”
Doch wie bei jedem Abenteuer gibt es immer einen, der es nicht schafft, und so kam schließlich für Gitarrist Chris Chinchilla der Augenblick, in dem er die Band verließ. Da alle Bandmitglieder ihre Jobs zugunsten eines nicht gerade lukrativen Albumvertrags gekündigt hatten, standen die Musiker plötzlich ohne Geld da. “Ich bin ziemlich blöd”, gibt Eddie zu. “Ich fand die Vorstellung, irgendwo in einer 1-Zimmer-Wohnung zu verhungern, total romantisch. Aber Chris steht wohl mehr auf die angenehmen Dinge des Lebens, deshalb ist er gegangen.”
Als schließlich Ersatzmann Jasper Future mit seinen dreisten Weezer/Nirvana-Einflüssen ins Bild kam, sah die Lage schon wieder ganz anders aus. Der güldene Palast des Showbusiness hatte seine Pforten geöffnet; dank Auftritten mit Ghostface Killah und Begegnungen mit Russell Simmons, Wyclef Jean und Gnarls Barkley sowie vieler lustiger Momente (namentlich einer Coverversion eines We Are Scientists-Songs) entwickelten Art Brut sich zu Amerikas Lieblingen. “In Amerika und Deutschland sind die Leute deutlich weniger zynisch als in England, glaube ich. Wenn sie ‘Emily Kane’ hören, sagen sie ‘Oh, du musst Emily Kane sehr geliebt haben, das ist ein wunderschönes Liebeslied’, während wir zu Hause gefragt werden: ‘Oh, das ist wirklich witzig. Habt ihr Emily erfunden? Das klingt wie ein Emo-Song.’ Aber nein, es ist die reine Wahrheit.”
Tatsächlich stellte der Song den Kontakt zwischen Eddie und Emily wieder her, “und ihr neuer Freund ist wirklich nett”, gibt er bedauernd zu. Doch nachdem er Emily – und TOTP – endlich hinter sich gelassen hatte, war er bereit, nach London zurückzukehren und an Phase 2 zu arbeiten.
“Mir war gar nicht bewusst, wie sehr ich England liebe, bis ich so lange weg war”, sagt Eddie. Die Band hat soeben ihre bis dato größten US- und UK-Touren, Festivals auf der ganzen Welt, darunter Coachella, Pitchfork, Benicassim und das Siren in New York hinter sich gebracht, mit ‘Nag Nag Nag Nag’ eine neue Hitsingle gelandet, bei Labels/Mute unterschrieben und sich dann schnell an die Aufnahmen zu ‘It’s A Bit Complicated’ gemacht. “Das war gut so”, meint Eddie, “denn wir hatten eigentlich nie Zeit, das erste Album zu schreiben. Wir mussten alle Songs verwenden, die wir hatten. Dieses Mal wussten wir genau, was wir wollten.”
Und so ist ein in jeder Hinsicht besseres Album daraus geworden – ein bisschen kompliziert zwar, aber doch nicht so kompliziert, dass die Grundfesten des Pop, auf denen auch Art Brut ruht, gefährdet wären. “Das Album ist ähnlich wie das erste, aber besser. Wir haben Humor, aber wir sind kein Witz.”
Das Album erscheint am 22.06.2007 als CD, als Doppel-LP und als Deluxe Digital Download mit zwei Bonustracks.
Art Burt snd:
Eddie Argos – Gesang
Ian Catskilkin – Gitarre
Fredie Feedback – Bass
Mike – Schlagzeug
Jasper Future – Gitarre
No Comment