Sowas wie das ungeschriebene Gesetz der Popkultur: Es muss echt sein! Aber wie „authentisch“ ist sie denn wirklich?
Sex, Drugs, Techno, Irrenhaus: Paul Kalkbrenner (im Film!)
Ein bisschen Feixen darf man sich von Seiten der Popkultur schon erlauben, wenn man beobachtet, wie sich der Literaturbetrieb in Sachen Hegemann über den Tisch ziehen lassen hat. Und das weniger wegen des peinlichen Erwischtwerdens beim Copy&Paste-Verfahren. Er ist schlicht dem ältesten Marketingtrick der Popmusik an die Angel gegangen, dem Versprechen der „Authentizität“. Denn so muss es wohl sein – wird sich der per Definition lebensfremde Literaturkritiker gedacht haben –, das richtige Leben im sagenumwobenen Technoclub, wo alle zwischen zwei Lines übereinander herfallen, egal, welches Geschlecht gerade greifbar ist.
Zum Trost der Literatur- darf angemerkt werden, dass auch die Technoszene vor ihren eigenen Klischees nicht gefeit ist. Seit „Berlin Calling“, einem Film, in dem der schon seit Jahr und Tag einigermaßen bekannte DJ Paul Kalkbrenner eben nicht sein eigenes aber ein Leben der DJ-Jetset- (und damit Drogen-)Exzesse spielt, ist er plötzlich auch wirklich ein Star und kaum jemand in den Schlangen vor den (inzwischen) Hallen, in denen er auftritt, hält das auseinander. Hauptsache irgendwie „authentisch“!
„Authentisch war schon Hitler“, sang die Band Kettcar auf ihrem letzten Album angenervt und bezog sich damit auf eine Anmerkung des Popdiskurs-Granden Diedrich Diederichsen. Denn der offiziöse Popdiskurs hat sich schon seit gut zwanzig Jahren vom Authentizitäts-Begriff verabschiedet. Geholfen hat das indes wenig. Immer noch gilt „authentisch sein“ als das Nonplusultra des Selbstverständnisses, als unbedingte Voraussetzung für ernsthaftes musikalisches Schaffen abseits der nach Musikindustriemaßstäben normierten Standards für Erfolg. So wird derzeit der Typus des vollbärtigen Holzfällerhemdträgers mit einfühlsamen Indie-Gitarrensongs gern für „authentisch“ erklärt, eine Lady Gaga selbstredend nicht. Aber wieso eigentlich nicht?
Echt? Lady (Not So) Gaga!
Vor zwei Jahren gab es noch keine „Lady Gaga“, dafür mühte sich eine studierte Stefani Germanotta mit gefühligen Songs am Klavier. Das hat niemanden interessiert. Erst die komplette Abschaffung von allem, was „Authentizität“ gemeinhin ausmachen soll, die Neuerfindung als Komplett-Kunstfigur inklusive Penisdiskussion machte sie buchstäblich einzigartig. Der Indierocker hingegen tut eigentlich nichts anderes, als aus einem für ihn passenden Fundus an Erscheinungsbild und Musik zu schöpfen, angemessen individuell angepasst, falls er gut ist, versteht sich. Wer ist dabei „authentischer“? Oder vielmehr: „plausibler“? Im Kern geht es doch vor allem um die Fähigkeit, glaubwürdig darzustellen, dass man sein Metier gut beherrscht und dies einigermaßen selbstbestimmt tut. So gesehen ist sogar ein Dieter Bohlen – dem man die Rolle Dieter Bohlen zu praktisch 100 Prozent abnimmt – sehr viel „authentischer“ als eine beliebige idealistisch agierende junge Band, die gerade zu Beginn ihres Schaffens in einem meist sehr engen Korsett aus vorgeprägter musikalischer Stilistik und Genre-typischen Kleidungs- und Bewegungsmustern verhaftet ist. Und doch wohl auch viel authentischer als von vornherein kalkulierte “neue” Popprodukte. Oder? Von denen aber lebt die Popmusik. Es kommt nur auf die Schöpfungshöhe an.
Sehen nicht umsonst voll schwul aus: Judas Priest
Die Beatles waren einfach nur irgendeine Band aus Liverpool, bevor sie von Astrid Kirchherr und Brian Epstein zu den schnieken Pilzköpfen getrimmt wurden, als die sie Musikgeschichte schrieben. Die Stones gaben das kühl berechnete Gegenbild dazu. Dass nicht Johnny Rotten und Sid Vicious (gut, der sowieso nicht) die Sex Pistols gegründet haben, sondern der Boutiquenbesitzer Malcolm McLaren, weiß man sogar in der Punkszene. Metaller hingegen verdrängen ganz gern, dass sie vorzugsweise Lederklamotten tragen, weil Rob Halford ausgerechnet in einem Schwulenladen fündig wurde, als er nach aufsehenerregenen Outfits für die aufstrebenden Judas Priest suchte. Wenn aber nichtmal die „Originale“ „authentisch“ sind, wie können es dann die Epigonen sein? Gesten, Posen, Kleidung, Bewegungsstile – gerade im gern als “authentisch” gehandelten “ehrlichen” Rock bis zur Lächerlichkeit schablonisiert. Das gilt für andere Musikstile ebenso wie für die damit gern verbundenen Lebensstile. Beziehungsweise für das, was man sich unter einem “authentischen Lebensstil” vorstellen mag.
Wie „echt“ beispielsweise die bei Kids immer noch beliebte Berliner Gangster-Rapper-Szene ist, kann sich leicht zusammenreimen, wer die Herkunftsorte einschlägiger Protagonisten unter die Lupe nimmt und erstaunlich wenig Ghetto-kompatible Stadtteile findet. Der Trick ist, die selbst- oder fremdzugeschriebene Rolle so auszufüllen, dass die Zielgruppe bereit ist, sie abzukaufen. Kein Problem bei einem Paul Kalkbrenner oder – zurück zum Thema – Airen. Hingegen einer Helene Hegemann auf den Leim zu gehen, dafür muss man schon ein wenig weg sein aus dem realen Nachtleben. Wie ein Literaturkritiker halt. Der wirkt so natürlich ganz besonders authentisch.
Augsburg
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