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Egal ob als erfolgreicher Unternehmer oder brotloser Barkeeper wie Sven Regeners Romanfigur Herr Lehmann, Berlin war wahnsinnig bequem als die Mauer noch stand. Die einen planschten glücklich im Pool des Internationalen Clubs an der Messe, die anderen freuten sich über Wohnungen mit strikter Mietpreisbindung oder besetzten, wenn ihnen auch das zu teuer war, einfach ein paar Häuser. Zueinander kamen diese beiden Seiten West-Berlins so gut wie nie, aber jeder hatte es sich in seinem Kiez schön eingerichtet.
West-Berlin war ein riesiges Bielefeld geworden.
Deshalb wurde es auch so gut von Bundesdeutschen Studenten aus Kleinstädten angenommen. Sie fanden hier nicht nur Wehrfreiheit, sondern eine in jeder Hinsicht klar abgegrenzte Stadt, in der man sich kaum verlieren konnte. Realität war durch überschaubare Rituale geprägt, gesellschaftliche Orientierung fiel nicht schwer. An jedem ersten Mai spielten die einen Räuber und Gendarm in Kreuzberg, die anderen klatschten einmal im Monat Samstags um 19.30 bei der ZDF Hitparade mit Dieter-Thomas Heck unterm Funkturm am Vierviertel Takt vorbei. „Ganz Berlin ist eine Wolke“ lautete der Werbeslogan der Berlin Touristik später. Falsch, ganz Berlin war eine Kuscheldecke. Als die Mauer von Ost nach West fiel, wurde diese mit einem Ruck weggezogen. Seither ist manchen Leuten im Westen der Stadt kalt.
Was war passiert? Die Ost-Berliner und Brandenburger die über die Mauer kletterten und die Schlagbäume weg geschoben haben, waren getrieben von Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Sie suchten Freiheit und Visionen, denn Enge, Beschaulichkeit und Berechenbarkeit das hatten sie da drüben bereits mehr als genug. Der Mauerfall war ein Angriff auf die selbst gewählte Provinzialität der West-Berliner Bürger und Ost-Berliner Bonzen. Erstgenannten war das lange nicht klar. Sie versuchten einfach so weiterzumachen wie bisher. Große Teile West-Berlins ignorierten die andere Stadthälfte die plötzlich über sie gekommen war, im Sinne des stillen Kampfrufs „Berlin bleibt Bielefeld!“ Die Fronten und Vernetzungen verdichteten sich, Paul Kuhn und Harald Juhnke prägten weiterhin die Stadtkultur. Der gordische Knoten West-Berliner Verflechtungen und Provinzialität musste zerschlagen werden.
Das gelang schließlich durch die Beteiligung der PDS/die Linke an dem Kabinett Klaus Wowereit. Mit 11 jähriger Verzögerung kam mit der ersten gemeinsamen, weil mit einer Ost-Partei gebildeten Regierung der Stadt das späte und überfällige Ende des alten West-Berlins. Die Sünden des ersten Jahrzehnts nach Mauerfall wurden endlich angegangen. Berlin mag heute noch auf wackligen Beinen stehen, der Erfolg noch nicht nachhaltig genug sein, doch schon allein das Gefühl des gemeinsamen Aufbruchs der zuerst in Musik, Film und Kunst sichtbar wurde, bewirkte Wunder. Die ganze Welt wollte plötzlich den Wandel bei uns spüren, wollte wissen wie es ist, wenn man sich als Stadt neu erfindet.
Mit den Millionen die kamen und immer noch kommen um diese Berliner Lässigkeit zu erleben, um hier Peter Fox zu bejubeln, Andreas Gurskys Fotografien und die Filme der aufgeblühten Berlinale zu schauen, wurde auch endgültig die Provinzialität vertrieben. Die Kleinstadt wuchs unversehens zur Weltstadt zusammen. Nur wer ewig gestrig ist, beklagt nun diesen scheinbaren Verlust von Idyll und Heimat und mag das Ganze dem Rot-Roten Senat übel nehmen. Vielleicht ist das der Grund warum manche West-Berliner Medien so wütend und nahezu irrational ihre eigene Regierung bekämpfen.
Die beiden letzten Volksbegehren wirkten wie ein Teil dieses aussichtlosen Kampfes. Statt sich mit den brennenden Berliner Problemen, wie zum Beispiel Kinderarmut und Integration zu beschäftigen, klebten ein Teil von uns für den Erhalt eines alten Flughafens Plakate und mussten wie alle sogar zur Wahl gehen. Noch absurder der Fall Pro Reli: In Hamburg hatte ich an der Schule das Pflichtfach Religion von der siebten bis zur zehnten Klasse. Vorher wurde das auf freiwilliger Basis von Kirchenmitarbeitern angeboten. Unsere Lehrer versuchten uns im Unterricht gesellschaftliche Werte und die Grundlagen aller Weltreligionen zu vermitteln. Das ist meines Wissens genau das was bei Ethik auf dem Stundenplan steht und wie es auch in fast allen anderen Bundesländern praktiziert wird. Lediglich der Name ist in Berlin ein Zugeständnis an den Koalitionspartner aus dem Osten gewesen.
Beide Diskussionen sind rückwärtsgewandt und einer Weltstadt nicht würdig. Kirche und Staat sind gerade in Preußen schon Ewigkeiten getrennt und wer sich ernsthaft für Verkehrspolitik und Kapazitätsmanagement interessiert hätte Tegel und nicht Tempelhof thematisieren müssen. Das ist aber auch egal, denn beides sind Symboldiskussionen. In Wirklichkeit will man die Kleinstadt West-Berlin zurück, sehnt sich nach den Zeiten da der ICE noch am beschaulichen Bahnhof Zoo gehalten hat. Die überwältigende Mehrheit der Stadt geht diesen Schritt zurück nach Big Bielefeld nicht mit. Die Verfechter des ewigen Westberlin sehen darin einen Beleg für die fortdauernde Teilung Berlins. In Wirklichkeit sind sie es selbst, die in der gemeinsamen Stadt noch nicht angekommen sind. Sie sind die wahren Einheitsverlierer.
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