Denkt man an Blur, fällt einem Oasis ein. Auch wenn diese assoziative Kausalkette nur bedingt kontigent ist, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass der damalige, von der englischen Presse induzierte Medienrummel Mitte der Neunziger darin gipfelte, beide Bands zu konkurrierenden Flaggschiffen des Brit-Pop-Phänomens zu stilisieren. Eine Tatsache, die sich tief ins popkulturelle Bewusstsein eingebrannt hat. Von musikalischer Warte ist diese verwaschene Erinnerung jedoch, insbesondere im klaren Rückblick, völliger Blödsinn. Blurs latenter Hang, neben dem großen Popmoment auch fortlaufend das musikalische Experiment zu suchen, hat doch in Ausdruck und Stil herzlich wenig mit der Pub-lizenzierten working class/lad-Attitüde der ursprünglichen Gallagher-Publikationen gemein. Bereits die Tatsache, dass drei Viertel der Band sich an einer Londoner Kunstschule kennen lernt, kann hier als grundlegende Basis für die implizierte Boheme-Theorie gewertet werden.
Dort kreuzen sich 1989 die Wege von Damon Albarn (Gasang/Keyboards), Graham Coxon (Gitarre) und Alex James (Bass), und wenig später steht mit Drummer Dave Rowntree die Besetzung für die Blur-Vorläuferband – Seymour. Erste Auftritte und Demoaufnahmen wecken das Interesse des Labels ‘Food’, das von dem Ex-‘Sounds’-Journalist Andy Ross und dem Ex-Teardrops Explode-Keyboarder Dave Balfe geführt wird. Die beiden sind es auch, die der jungen Band, gleich zusammen mit einer Reihe möglicher Neu-Vorschläge, einen Namenwechsel anraten. Seymour entscheiden sich für Blur.
1991 erscheint das von Smith-Produzent Stephen Street betreute Debüt ‘Leisure’, nachdem die Vorabsingles ‘She’s So High’ es in die U.K. Top 50, und die zweite, ‘There’s No Other Way’, es gar unter die ersten zehn schaffte. Dennoch bleibt das Album insgesamt hinter den Erwartungen zurück. Blurs Sound, zu diesem Zeitpunkt noch verstärkt am Manchester-Rave vom Schlage Stone Roses oder Happy Mondays orientiert, kommt dabei nicht zu Gute, dass sich gerade diese musikalische Strömung ihrem jähen Ende zuneigt. So ist die eingängigere 92er Single ‘Pop Scene’ mit Bläsersatz und Gitarren-Attack nicht nur Vorbote eines kommenden Albums, sondern auch eines musikalischen Stilwechsels.
Diesen vollzieht 1993 ‘Modern Life Is Rubbish’ vollständig. Hierauf reüssieren Blur in klassischer britischer Pop-Tradition, werden die Beatles, Bowie und Kinks und andere Facetten englischer Gitarrenmusik zu Rate gezogen und das kontemporäre Leben im Königreich lyrisch bissig kommentiert und karikiert. Nach fast einjährigem Studioaufenthalt, abermals mit Stephen Street, ist diese Platte keine einfache Geburt. ‘Food’ fehlt zunächst die Hitsingle, woraufhin zusätzlich ‘For Tomorrow’ eingespielt wird. Den absurden Vorschlag ihres amerikanischen Labels ‘SBK’, das gesamte Material mit Nirvana-Produzent Butch Vig erneut einzuspielen, lehnen Blur dankend ab, die Platte erscheint mit halbjähriger Verspätung dann aber dennoch in den USA. In England schafft sie es immerhin auf Position 15 der Albumcharts.
Erst ‘Parklife’ aus dem Jahr 1994 ist für Blur der wahrhaftige Durchbruch, inklusive Pole Position-Einstieg. Die bereits auf dem Vorgänger initiierte heimische Legendenverehrung rückt subtiler in den Hintergrund, und Blur betreiben neben einem unaufdringlichen New-Wave- und Post-Mod-Fokus auch Forschungsarbeiten in den Bereichen Disco, Punk, und Psychedelia. Die Single ‘Girls And Boys’ sorgt unter anderem auch dafür, dass Blur zunehmend auf europäischen Festland Gehör finden, auch wenn textlich weiterhin satirisch angehauchte, augenzwinkernde Sozialstudien der heimatlichen Insel und den Eigentümlichkeiten ihrer Bewohner im Vordergrund stehen. Das macht Blur dort somit auch zu Identifikationsfiguren eines neuen britischen Jugendbewusstseins und Selbstverständnisses. 1995.
Brit-Pop ist nach ‘Parklife’ und Oasis’ ‘Definitely Maybe’, sowie zahlreichen nachziehenden Bands auf seinem vorzeitigen Höhepunkt, ebenso wie der Zweikampf der beiden Speerspitzen der Bewegung. Blur ziehen die Veröffentlichung der Single ‘Country House’ vom folgenden Album ‘The Great Escape’ um eine Woche vor, um mit Oasis ‘Roll With It’ um die höhere Chartplatzierung konkurrieren zu können. ‘Country House’ wird dabei die erste Nummer Eins-Single der Band, den Album-Kampf verlieren sie hingegen an Oasis, deren ‘(What’s the Story) Morning Glory?’ zum UK-Album der Stunde avanciert.
Blur gönnen sich eine kleine Auszeit, um 1997 mit einem selbstbetitelten Album einen erneuten Kurswechsel anzuschlagen. ‘Blur’ ist größtenteils die abgeschminkte und teilweise rauhe Abkehr von britischen Traditionen, das zweiminütige Gitarreninferno ‘Song 2’ darauf die härteste Rocknummer, die Blur je gemacht haben. Verstärkt orientiert an amerikanischer Independent-Gitarrenmusik beschert zumindest dieser Song Blur das lange vermisste Standbein auf dem US-Markt und nebenbei nette Nebeneinkünfte, denn ‘Song 2’ wird auch als Werbejingle u.a. für Intel zweitverwertet.
’13’ aus dem Jahr 1999, das erste nicht von Stephen Street sondern von Madonna-Retter William Orbit produzierte sechste Album, bietet dann nicht nur die seelenvolle Gospelnummer ‘Tender’, sondern vor allem Lo-Fi inspirierten Küchensound-Kunst-Rock, der auf Grund seiner experimentellen und progressiven Vielfältigkeit vielerorts die Herzen Feuilleton-Hörigen Hörer und Kritiker höher schlagen lässt.
Es folgt eine längere Pause, während der im Jahr 2000 ein Best-Of-Album erscheint. Gitarrist Graham Coxon nutzt die Auszeit für sein zweites Solo-Album ‘The Golden D’, während Damon Albarn zusammen mit Comic-Zeichner Jamie Hewlett (‘Tank Girl’) den bislang größten künstlerischen Coup des jungen neuen Jahrtausends plant. Die beiden entwerfen mit den Gorillaz eine fiktive Cartoon-Band, deren Mitglieder im wahrsten Sinne nur auf dem Papier (und animiert in Videos) existieren. Mit wechselndem realen Musikerstamm sind bei den Gorillaz sämtliche Genregrenzen verwischt, ob HipHop, Punk oder Dub, hier ist alles erlaubt. Dabei entstehen die Studioalben ‘Gorillaz’ (2001) und ‘Demon Days’ (2005).
Erst 2002 versammeln sich Blur wieder komplett als Band im Studio, um an ‘Think Tank’ zu arbeiten. Jedoch ist diese Wiedervereinigung durch Coxons endgültigen Ausstieg nur von kurzer Dauer. Trotzdem wird ‘Think Tank’ 2003 fertiggestellt. Vornehmlich von der restlichen Band alleine produziert – nur bei zwei Tracks half Norman ‘Fatboy Slim’ Cook – präsentieren sich Blur, wenn auch deutlich uninspirierter als zuvor, weiterhin als avantgardistische Klangkünstler mit Samples, Beats und rumpelnden Klanglandschaften, die jedoch einstige Songwriting-Qualitäten dezent vermissen lassen.
Im Jahr 2005 versammeln sich Blur als Trio für Studioaufnahmen wieder, diese werden jedoch ergebnislos abgebrochen. Eine darauf folgende Bandpause endet erst im Oktober 2007, als sich James, Albarn und Rowntree wieder treffen, aber keine konkreten Pläne für ein neues Album schmieden. Im November 2008 legen der Frontmann und Coxon ihre Differenzen bei, einen Monat später wird die Reunion in Originalbesetzung bekannt. Zur Feier dessen erscheint im Juni 2009 eine weitere Best-Of-CD, diesmal allerdings von dem Quartett selbst zusammengestellt: ‘Midlife: A Beginner’s Guide To Blur’. Am 2. und 3. Juli 2009 finden im Londoner Hyde Park die Comeback-Konzerte statt, die innerhalb von kürzester Zeit ausverkauft waren. Einige Tage zuvor treten Blur zum ersten Mal seit 1998 wieder beim Glastonbury Festival auf. Nach Aussagen mehrerer Bandmitglieder gibt es aber nach den Shows keine weiteren Pläne wie Albumaufnahmen oder weitere Liveauftritte für das Quartett.
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