Es gab nichts zu sehen. Wenn eine Säule und die Hinterköpfe unzähliger Menschen nichts sind. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen. Und doch, da war was auf der Bühne. Ein Ventilator stand am linken Rand. Ich versuchte so an der Säule vorbeizuschauen, dass ich den anderen Teil der Bühne sehen konnte. Denn wenn ich den Applaus der besser positionierten Menschen richtig deutete, betraten Calexico gerade die Bühne.
Und dann sah ich eine von einem karierten Holzfällerhemd (heißen die heute eigentlich immer noch so?) bedeckte Schulter. Ich streckte mich noch mehr. Der Holzfällermann trug eine Gitarre und fing an zu spielen. Seine Stimme klang wie des Calexico-Sängers. Es musste also Joey Burns sein und ich hatte ihn gesehen, zumindest in Teilen. Zeit, sich wieder auf die Fußsohlen zu stellen. Ich brauchte ganz schnell einen anderen Platz. Aber da war kein Durchkommen. Wenn ich es auch nur einen Meter weiter Richtung Bühne und hinter der Säule hervorgeschafft hätte, wäre ich entweder erstickt, erdrückt oder verkloppt worden. Ausverkauft nennt man das wohl.
Neben mir drängelte sich ein Mann durch. Er hielt eine riesige und teuer aussehende Kamera vor sich her, als könne sie ihm den Weg ebnen. Er gab nach dem von mir schon aus getesteten Meter auf. Und kehrte wieder um. Zurück zur Bar.
Ich konzentrierte mich auf die Musik. Ist ja schließlich auch was zum Hören, so ein Konzert. Vor mir knutschte ein verpickeltes Mädchen mit einem auch nicht gerade ansehnlichen Jungen rum. Ihn schien die Säule nicht zu stören, er starrte mit einem psychopathischen Dauergrinsen in den Ausschnitt seiner kleinen Begleitung, der wahrscheinlich niemand gerne ins Gesicht schaute.
Eine Freundin neben mir hatte bessere Sicht. Als ich sie nach den Ereignissen auf der Bühne fragte, erklärte sie, der Ventilator sei gar keiner, sondern ein Mikro mit einer runden Plexiglasscheibe drauf, wo der Trompeter rein blies. Aha.
Ich brauchte neues Bier. Als ich mich umdrehte, sah ich wie der Fotograf auf einem leeren Bierkasten stand und über die Köpfe hin weg fotografierte. Hätte ich mal eine Kamera mitgenommen. So also Bier und Zigarette. Neben der Bar war so eine Art Notausgang, vor dem sich die Securitys tümmelten. Man sah selbst von dieser Raucherecke besser. Zumindest konnte ich drei Menschen auf der Bühne ausmachen. Insgesamt seinen es acht, meinte ein groß gewachsener neben mir. Die Musik lief hier eher so auf Zimmerlautstärke.
Mein Zimmer fiel mir ein mit dem 2×1,60m großem Bett und dem CD-Player, wo noch die großartige neue Calexicoplatte drin lag. Ich drängelte mich wieder rein ins Getümmel. Anne musste ähnliche Gedanken bekommen haben, sie war verschwunden, selbst das penetrante Pärchen hatte sich zurückgezogen. Ich unternahm einen letzten Anlauf und nach einigen bösen Blicken und blauen Flecken war es geschafft. Ich stand neben der Säule und sah die ganze Bühne. Das Plexiglasmikro, das Holzfällerhemd und einen Kontrabass. Und sieben (von wegen acht) Menschen, die die Bühne gerade verließen. Um mich rum klatschten alle wie verrückt. Sah so aus, als wäre es ein äußerst tolles Konzert gewesen.
Ein ganzes Konzert von Calexico, wo man alles sieht, gibt`s übrigend hier.
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