Zwischen Ostalgie und Nachwende-Depression tragen sich im fernen Osten der Republik kuriose Dinge zu. In Chemnitz, dem Karl-Marx-Stadt unter Sachsens Metropolen, feiert eine unerschrockene Riege chronischer Underdogs sich und das Leben in Europas Hotspot der Senilität. Unter den strengen Blicken des Großen Vorsitzenden beschallen Kraftklub die leeren Boulevards des fleischgewordenen Sozialismus. Sonderbar schön ist es hier. Doch wie viel K steckt noch in dieser Stadt? – Eine Sinnsuche in 6 Akten.

Charismatisch oder Komisch?

Auf dem Fahrrad ab ins ODRADEK. Fahrt im Nieselregen, grelle Ampeln spiegeln sich auf dem nassen Asphalt, Tropfen auf meiner Brille brechen Lichtstrahlen in Sternschnuppen. Rein ins Warme, vor einer Bücherwand warten schon Kiki Bohemia und Sicker Man. Vielleicht wissen die ja was. Ein spaciges Cello konkurriert mit Gitarren, Keys und Midi-Pads um die Aufmerksamkeit der Meute. Kiki erzählt traurige Geschichten über Kokain und hätte in ihrer mädchenhaften Koketterie Brian Molko alle Ehre gemacht während Sicker Man sein Cello verprügelt, bis er Heuschrecken speit. Beim zweihälsig gerotzten ‘I don’t care’ wabert Iggy Pop-Romantik durch den Raum, während ich an meinem Reichenbrandter Pils nippe. Ein zerstreuter Blick nach oben, plötzlich eine Armada aus Buchrücken. Der erste Titel: „Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg.“ Komisch…genug gesehen, ich muss weiter.

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Charmant oder Kläglich?

Jetzt also AALTRA. Gleich an der Stasi-Ecke auf dem Kaßberg sollte was zu holen sein. Drin gibt’s die Sons of Settlers aus Südafrika. Was die wohl nach Chemnitz treibt? Pilsner Urquell sprießt aus den Hähnen in bauchige Gläser. Aha, die gab’s bestimmt schon in den Bauernkriegen. Ein Blick auf die Bühne: vier Jungs und genug Haare, um eine indische Toupetfabrik monatelang auszulasten. Ein Buchtitel von eben kommt mir in den Sinn: „Der Verlust der Tugend.“ Genau, dis hätts in Korl- Morx-Stodt ni gegeben. Durch die dichten Rauchschwaden wippen Duts zur leichten Gitarrenmusik und erinnern mich daran, dass es auch noch eine Welt von Beany-Beutel-Indie-Chicks gibt. Charmant. Schon ist die Show vorbei, der Bann gebrochen, eifriges Kippenglühen wird ergänzt vom Leuchten der Smartphones, Mädels sind auf der Suche nach Stiften für Autogramme. Mein Nervenzusammenbruch aber muss noch warten, ab auf den Sonnenberg.

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Creepy oder Kunstvoll?

In Chemnitz’ Rotlichtbezirk wartet ein übersinnliches Ereignis auf mich. Die bunten Neonröhren des LOKOMOV leuchten schon von Weitem durch die kalte Luft. Ich komme genau richtig, die Messe ist eröffnet. Mary Ocher and Your Government paaren den Druck zweier Drumsets mit den Rufen einer Sirene, die ihre Tage hat. Hinter dem Versuch einer häßlichen Version von Kleopatra öffnen und schließen sich im Zeitraffer Blüten und verhöhnen die Schönheit, die uns von der Band offensiv verwehrt wird. Während ich mich frage, warum ich im Gegensatz zur Hohepriesterin der Weirdness keinen Strahlenschutzanzug bekommen habe, hebt diese ihre Arme beschwörend in die Höhe, während hinter ihr die Bomben fallen. Creepy. Paralysiert wandert mein Blick durch die angelaufenen Schaufenster nach draußen auf die Kreuzung. Dort stieren irritierte Randchemnitzer während der Rotphasen angestrengt auf die Szenerie und Blicke verbinden sonst hermetisch getrennte Welten. Neben der Tür entdecke ich eine Zeitmaschine – ‘Poly Play’, hergestellt in Karl- Marx-Stadt. Wohin geht die Reise? Wasserrohrbruch, Hirschjagd oder Schmetterlinge? Ich schnappe meinen Köcher und folge den tanzenden Schmetterlingen über die Kreuzung.

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Fortsetzung folgt…

(Fotos: Tim Plagemann)