Zwischen Ostalgie und Nachwende-Depression tragen sich im fernen Osten der Republik kuriose Dinge zu. In Chemnitz, dem Karl-Marx-Stadt unter Sachsens Metropolen, feiert eine unerschrockene Riege chronischer Underdogs sich und das Leben in Europas Hotspot der Senilität. Unter den strengen Blicken des Großen Vorsitzenden beschallen Kraftklub die leeren Boulevards des fleischgewordenen Sozialismus. Sonderbar schön ist es hier. Doch wie viel K steckt noch in dieser Stadt? – Eine Sinnsuche in 6 Akten.

Cool oder Kacke?

Als ich merke, dass es weder Köcher, noch Schmetterlinge gibt, stehe ich schon längst im NIKOLA TESLA. An der Bar gibt’s unglaublich viel Gin, beworben an einer Kreidetafel, deren Schrift verschwimmt, als ob der böse Wolf mal drübergeleckt hätte. Neben mir steht ein fetter Bär mit Martiniglas und nickt wohlig-wütend mit dem Kopf. Vorne gibt’s von DXBXSX, also zwei langhaarigen Dudes und einem Sänger, der aussieht, wie die kurzhaarige Version von Colin Farell in True Detective, ordentlich auf die Fresse. Gitter vor den Fenstern schützen vorm heiligen Zorn der immernoch an der Ampel wartenden Randchemnitzer, während von der Bühne ein inbrünstiges ‘Deutschland, du bist so Kacke’ schallt. Riecht ziemlich nach K… hier, muss weg.

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Chaos oder Klub?

Weg, hin zum Leucht-Schlot des Chemnitzer Nachtlebens. Das ATOMINO verspricht Erkenntnis. Es heißt, wenn man sich ganz ruhig verhält, genug Geduld und viel Glück hat, kann man hier hin und wieder ein wildes Kraftklub in freier Wildbahn erleben. Nach einer Odysee durch die Chemnitzer Innenstadt hat sich das Atomino mittlerweile in einen Bunker zurückgezogen, der Schutz gewährt von den Anschlägen allgegenwärtigen Biedermeiertums. Phon.O steht an den Reglern und seine treibenden Bässe verschmelzen mit der Wandtapete zu atomaren Mandalas die nur darauf warten, verwischt zu werden und einer neuen Realität zu weichen. Alles verschwimmt, ein Sog bildet sich und spuckt mich aus in der nächsten Station – werde ich hier die Antwort finden?

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Chronisch oder Kleinlich?

Eine kurze Reise durch Zeit und Raum und ich schlage im WELTECHO auf. Laser zucken durch den Raum und ich nehme plötzlich um mich herum eine tanzende Meute wahr. Ich bewege mich nur noch schleppend, völlig überfordert von den Eindrücken dieser schier endlosen Nacht. Selbst wenn die Erkenntnis mich verführerisch antanzen würde, wäre ich wohl nicht in der Lage, ihr auch nur Feuer zu geben. Meine Hilflosigkeit wird langsam chronisch.

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Kapitulation

Also gebe ich einfach auf. Chemnitz oder Karl-Marx-Stadt, mit oder ohne K? Ich kapituliere. Doch Eines scheint sicher: Wäre Marx ein Feierbiest gewesen, er hätte diesen Ort geliebt. Und so schließe ich die Augen, hebe ab und fliege durch die dunklen Alleen. Wohin? Keine Ahnung, Hauptsache, nicht nach Berlin.

(Fotos: Tim Plagemann)