Der größte Scheiss, der in den letzten Jahren verzapft wurde ist, dass jedermann suggeriert wurde, man könne seine Ziele und Wünsche von heut auf morgen realisieren. Fernsehstationen haben uns diese Lüge anhand von angemessen traurig dreinschauenden Handyverkäufern vorgeführt und Telekommunikationsunternehmen dann mit dieser Inszenierung Werbung getrieben; dicke, große, konservative Bundeskanzler haben sich stolz und wahlkampftauglich mit 18 jährigen, kleinen, dünnen und windigen Spekulanten ablichten lassen, die Presse dann deren spätere Pleite heruntergespielt.

Die Liste kann man beliebig verlängern. Seit den neunziger Jahren ist eine Propaganda gegen Nachhaltigkeit und Verantwortung und für den schnellen Erfolg allgegenwärtig. Gemessen wird im Quartalstakt der amerikanischen Börse, erdacht und produziert ad hoc und entschieden in Sekunden. Moderne Kommunikation und digitalisierte Produktion und Distribution haben uns das möglich gemacht. Belohnt wird, was schnell funktioniert und nicht das, was Werthaltigkeit schafft. Darin liegt der Kern der aktuellen Finanz- und Börsenkrise, aber es erklärt auch einen Großteil der Probleme der Musikwirtschaft.

Es ist nicht so, dass ich beim Run um die schnelle Mark am Güterbahnhof nicht mitgemacht hätte. Meine größten Bonuszahlungen habe ich in den Jahren 1993 bis 1996 erhalten. Da hagelte es Hit auf Hit. Marusha machte mit „Over the Rainbow“ einen auf Techno Judy Garland, ein Krefelder DJ ließ als Perplexer beim „Acid Folk“ Dudelsacksamples laufen und Mark OH verwurstete mit „Tears Don’t Lie“ deutschen Schlager im Viervierteltakt. Für Letzteres bekam er dann den Echo als bester deutscher Künstler des Jahres verliehen und all die zuvor genannten Singles wurden mit Gold und Platin überhäuft.

In meinem ganzen Berufsleben schwamm ich noch nie so sehr auf der Welle des Erfolgs. In meinem ganzen Berufsleben habe ich für meinen Arbeitgeber aber auch noch nie so wenig Substanz geschaffen. Die witzigen Songs und Coverversionen wurden mit digitaler Technik schnell gestrickt und ebenso fix vom Publikum wieder vergessen. Während Universal heute noch neue und alte Aufnahmen von Motorkünstlern wie Rammstein, Element of Crime, Tocotronic und Co. verkauft, tut sich bei U96, Robert Miles und Vengaboys nichts mehr, was den Katalog angeht. Im Katalog, also den existenten Rechten, liegt aber die eigentliche Werthaltigkeit einer Musikfirma verborgen.

1991 bekam ich das erste Mal Demos von einer Gruppe namens „The Early Birds“ auf den Tisch. Irgendwann kam Post im wöchentlichen Rhythmus aus der westfälischen Provinz. Neben Musik waren es fiktive Stadtpläne, Baukästen für Holzgiraffen und Videos mit Stoffpuppen die „Hey, Mr. Tim, let the Early Birds sing – right now!“ trällerten. Das Duo bestehend aus Tom Deininger und Stan Servaes bekam 1992 einen Vertrag. Ein Erfolg wurde es dennoch nicht.

Aus The Early Birds wurde Ralley und die Freundin des einen, die Sängerin der Band. Aus Englisch wurde nach zwei Alben deutscher Gesang und aus der Band Ralley die Gruppe Klee. Und auch mit Klee ging es nicht durch die Decke. Die erste Platte fand Anerkennung, die zweite auch Käufer. Für einen Nummer Eins Hit reicht es jetzt, 17 Jahre nach dem ersten The Early Birds Demo noch immer nicht. Denn Klee hat Substanz und setzt nicht auf den schnellen Showeffekt. Bei jeder Tournee kommen mehr Zuschauer, jede Platte findet mehr Abnehmer. Geduld gepaart mit Qualität zahlt sich aus.

Bei Polarkreis 18 sind wir bei Motor schon fast verunsichert, wie gut und schnell alles läuft. Vor dreieinhalb Jahren kannten wir die Band noch nicht. Aber drei Jahre arbeitet unser Eric nun auch schon mit und an ihnen und sie selbst an sich. Unabhängigkeit in der Produktion und Inszenierung beschleunigt ihren Weg, aber gerungen, hinterfragt und diskutiert wird auf diesen noch immer. Die wichtigste Frage dabei: Wo ist man eigen und einmalig und bringt dadurch künstlerisch einen echten Mehrwert.

Wären eine Finanzwirtschaft derart vorgegangen, hätte man den Willen zur kleinteiligen Arbeit wie Klee und zur ständigen Hinterfragung des eigenen Beitrags wie Polarkreis 18 gehabt, stünden in Frankfurt vielleicht einige prachtvolle Hochhäuser weniger, aber Deutschland, also Dir, mir und unseren Steuerzahlungen, wären auch 470 Milliarden zur Rettung dieser erspart geblieben. Das ist übrigens das 294 fache dessen, was die Musikindustrie in Deutschland Jahr für Jahr umsetzt und wäre nur das 150 fache ihres Werts gewesen, hätte sie nicht zur eigenen Substanzlosigkeit aktiv beigetragen.
Auf mehr Nachhaltigkeit freut sich

Euer Tim