!doctype

Was sich wohl zugetragen hätte, wenn man Erich Honeckers Geburtstagskapelle LSD in die Drinks gemischt hätte? Vielleicht genau das, was Der Empfang musikalisch umsetzen: Osteuropäischer Agententhriller trifft Schlager trifft experimentelle Rockmusik. Doch die eigentliche Antwort: man hätte sie ausgewiesen.

(Foto: Christiane Hanff)

Ein kühler Spätnachmittag im Februar – Timo Klöckner sitzt mit einer Flasche Wostock inmitten geschäftigen Wirrwarrs des Leipziger Café Cantona. Es ist eine dieser neuen Trendlimonaden aus Berlin. “Sieht aus wie Cognac, ist kein Alkohol, schmeckt wie ein klarer Morgen im Tannenwald, verfeinert mit einem Hauch von Eukalyptus und einer Prise Taigawurzel” – so illustriert es eine übereifrige Marketing-Abteilung. “Schmeckt wie ein Latschenkieferbad” sagt Timo und lacht herzlich, “aber gut”. Im gleichen Moment betritt ein sichtlich abgehetzter Robert Seidel das Café – er entschuldigt sich für die Verspätung, das Netzteil seines E-Pianos sei spurlos verschwunden. Beide haben später noch mit Mud Mahaka, der bekanntesten ihrer unzähligen Bands, Probe. Doch um die geht es heute nicht. Heute steht Timos kompositorische Caprice, der er zusammen mit seiner neuen Band Der Empfang frönt, im Vordergrund.

Es ist – wie bei so vielen Dingen – die Not, aus der eine Tugend erwächst. In Timos Fall war es das Diplomkonzert, das vor gut einem Jahr den Ausschlag zur Bandgründung gab. Er ist studierter Jazz-Musiker, mag Leonard Cohen und Die Sterne. Eine Diskrepanz? Keineswegs, “klar kann man Popmusik studieren, aber ich wollte keine Ärzte-Coverband gründen”, entgegnet er und grinst. Und so ist es der enthusiastische Fan “populärer Gesangsmusik” – wie er es nennt –, der schließlich dem Instrumentalen den Vorzug einräumt, wie um den Beweis anzutreten, dass es ohne Narrator dennoch nicht an Narration mangeln muss. Wie das funktioniert? Kopfkino. Genau das ist die spezielle Eigenheit dieses ersten Albums: es erzählt tausend Geschichten, erzeugt mit jedem Ton ein Bild. Der Pawlowsche Schlüsselreiz für diesen Effekt liegt in der Kombination seiner Bestandteile versteckt.

Der Empfang – Kleines Audio-Portfolio

Immer wieder erkennt man fragmentarisch einzelne Bausteine – den Walzer im “Elefantenlied” oder eine Prise Swing in “Alexandra” – aber irgendetwas lässt sie fremdartig erscheinen. “Es ist diese Melodik, die immer total eigen ist” wirft Robert ein und ringt um eine präzisere Formulierung. Ein wenig osteuropäisch wirkt sie, mitunter blitzen subtil Post Rock-Nuancen durch (“Drei Fragezeichen”). Für eine angemessene Beschreibung fehlt einem allerdings das sprichwörtlich auf der Zunge liegende Attribut. Paradox ist der beim aufmerksamen Zuhören immanente Drang, die kontrastierenden Elemente stets auseinanderhalten zu wollen, obschon der Reiz in ihrem Zusammenspiel liegt – dem Verhältnis zwischen bekannt und ungewohnt. Timo nennt das “Avantgarde Schlager” und druckst ein wenig bei der Erklärung.

“Eigentlich ist es ein Widerspruch. Es hat diesen avantgardistisch experimentellen Charakter, kombiniert mit etwas Vertrautem – was eigentlich überhaupt nicht zusammenpasst. Aber trotzdem macht es Sinn.” Robert weiß es nach kurzem Nachdenken bildlicher auszudrücken: “Es ist eine Kombination aus 50s-Schlager und Free Jazz”. Nach einem Moment des Abwägens fügt er noch hinzu “eher Peter Alexander als Andrea Berg”. Beide brechen in schallendes Gelächter aus, gefolgt von einer Diskussion über DJ Bobo und Piratenschiffe. Ob sich beides verbinden ließe? Nebensächlich. “Was zählt ist der Ausdruck. Es soll nicht intellektuell befriedigen, sondern unterhalten”, meint Timo und spricht wieder vom Empfang.

Der Empfang – Studio-Session

Müßig gestaltet sich der Versuch, die Musik klassifizieren zu wollen. Was zählt ist: sie funktioniert – gewissermaßen filmreif. Um dennoch einen abschließenden Versuch, ganz im Sinne Joris Van Velzens – Geschäftsführer der Baikal Getränke GmbH – zu wagen: Sieht aus wie Liebesgrüße aus Moskau, ist nicht bolschewistisch, schmeckt nach wilder Verfolgungsjagd im Dacia verfeinert mit einem Hauch von kaltem Krieg und einer Prise Ennio Morricone. Aber gut.

Robert Henschel

Der Empfang – Der Empfang

VÖ: 01.11.2011

Label: Kick The Flame

Tracklist:
01. Russendisko
02. Monster
03. Elefantenlied
04. Alexandra
05. Drei Fragezeichen
06. Picknick am Wegesrand
07. Finn
08. Russendisko 2
09. Sway

Recent Posts

There is a crack in everything, that’s how the light gets in

“There is a crack in everything, that's how the light gets in”, sang einst der…

2 Jahren ago

Zwischen Pop und Experiment

Seit September veröffentlichen Yule Post und Tom Gatza gemeinsame Singles. Mit BYE erscheint nun die…

2 Jahren ago

Never Mind Modus Mio, Here’s the »NEW SILK«

Spätherbst 2022. Deutschrap TikTok-tänzelt zur zweihundertsten lieblosen Drill-Attrappe. Es wird höchste Zeit für neuen Druck…

2 Jahren ago

No time for losers with toxic desires

Sofia Portanet veröffentlicht am 2. November 2022 ihre neue Single Unstoppable, die dritte Single aus…

2 Jahren ago

Eine Geschichte von der Spannung zwischen Freundschaft und der Sehnsucht nach Intimität, untermauert von euphorischem Techno

Mit ihrer neuen Single “Mess Me Up” erzählt die junge Berlinerin benzii eine Geschichte von…

2 Jahren ago

MS DOCKVILLE 2022 – FESTIVAL FÜR MUSIK & KUNST

Ein Festival ist mehr als nur viele Konzerte – ein Festival ist eine Einladung, sich…

2 Jahren ago