Kassetten, Mixtapes, Schulhoftausch: verklärenswert, schön und wichtig für die musikalische Sozialisation. Geschichten aus der Hi-Fi-Romantik.

Man solle sich nicht so anstellen, heißt es regelmäßig in den einschlägigen “Raubkopie”-Diskussionen gerade mit Älteren, man hätte schließlich damals auch ganz bedenkenlos alles an Musik auf Kassette gezogen. Ohne je mehr zu bezahlen, als für eine Leerkassette fällig war. Und tatsächlich scheint ein Déjà-vu unvermeidbar: “Home Taping Is Killing Music” hieß die Kampagne der Musikindustrie gegen diese von ihr schon damals als teuflisch dargestellte Kulturtechnik der Weitergabe von Musik – nur dass seinerzeit noch auf die Androhung von “Freiheitsstrafe” verzichtet wurde und das Wort Abmahnung keinem Schüler geläufig war. Es gab – und das festzustellen ist durchaus berechtigt – selbstverständlich keinerlei “Unrechtsbewusstsein” und ja: es wurde alles kopiert, dessen man habhaft werden konnte, sofern es auch nur halbwegs ins Raster des eigenen, sehr vagen und noch lange nicht ausgereiften, Musikgeschmacks passte, der dadurch wiederum überhaupt erst geformt wurde.

Denn die Weitergabe einer Platte zum Kopieren war immer auch ein Vertrauensbeweis und eine Empfehlung. Von und durch jemanden, mit dem man in einem mehr oder weniger weiten Freundeskreis in irgendeiner Weise verbunden war. Und Freundschaft definierte sich vor allem über eins: Musik und die damit verbundene Szenezugehörigkeit. Die “richtige” Musik zu hören war unabdingbar, Kenntnisse über Musik Baustein des eigenen Prestiges. Musik war – um es auf einen Punkt zu bringen – “wichtig”, ihr Platz im eigenen sozialen Lebensgefüge zentral, denn “Es gab ja sonst nichts!”. Sehr viel zugespitzter stellt sich das übrigens bei einer Ost-Sozialisation dar, in der “Westmusik” seltenes Gut war, das Kopieren der raren Platten nur der erste Schritt in einer schier unendlichen Folge von Zweit- und Drittkopien von jeweils einem Tape auf ein weiteres, was der Musik an sich nicht wirklich zu Gute kam – ihrer Wertschätzung aber sehr wohl.

Man muss hier natürlich auch noch kurz abschweifen, weil das Thema nicht erzählt werden sollte, wenn man die quasistaatlichen “Raubkopierer” der DDR auslässt. Nicht nur, dass man heute weiß, dass die Monopol-Pop-Plattenfirma Amiga ihre westlichen Lizenzgeber planmäßig beschiss und jeweils mehr Platten presste, als man in den Verträgen und bei den entsprechenden Gebühren vereinbart hatte. Im Jugendradio DT64 gab es sogar eine eigene Sendung zum Mitschneiden. Jeweils eine ganze Plattenseite wurde bei “Duett – Musik für den Rekorder” extra so gesendet, dass man sie auf Tape bannen konnte. Über die Jahre konnte man sich so auch ohne Westanbindung oder Großstadt-Bekanntenkreis eine beachtliche Kassetten-Sammlung aller Rock-Klassiker zusammenstellen. Dass für die Sendung privat erworbene (oder gar eingeschmuggelte) Westplatten der Radio-Redakteure im staatlichen Funkhaus auf Sendeband gezogen wurden, stellte sich dann auch erst später heraus.

Ost und West gemein war allerdings, dass das Kopieren an sich ein komplexer Vorgang war, für den es neben der eigentlichen Musikquelle vor allem auch Zeit brauchte. Die analoge Kopie wurde schließlich in Echtzeit erstellt. Die Platte musste abgespielt und sinnvollerweise auch parallel gehört werden, um sie ordnungsgemäß auf Kassette zu übertragen. Schon der reine Vorgang des Kopierens bedeutete also die Notwendigkeit intensiver Beschäftigung mit Musik. Das war nix, was man mal eben zwischendurch erledigte, dazu wurden penibel genau Zeitfenster freigeschaufelt. Verschärft hat sich das mit dem – allerdings kurzfristigen – Aufkommen professioneller CD-Verleiher, die das Videotheken-Prinzip auf CDs anwendeten und gegen Gebühr die Ausleihe ermöglichten. Das war, gerade auch für die immer noch knapp bestückten Ost-Kunden, Anfang der Neunziger eine herausragende Möglichkeit, sich systematisch durch den Katalog zu wühlen und die verfügbare Musikgeschichte auf eigener Kassette zu archivieren – wegen der Leihgebühren im Zeitbudget als stundenlange Kopiersession strategisch geplant, was auch die ausreichende Anschaffung von Bandmaterial passender Längen einschloss. Das Geschäftsmodell wurde übrigens von der Musikindustrie nach nicht all zu langer Zeit vom Markt geklagt.

Noch viel frickeliger war das Aufnehmen aus dem Radio, zumindest im Normalfall, wenn man also buchstäblich wartete, bis ein lohnenswerter Song im Radio lief. Selbstverständlich musste man vorher das Sammeltape an die richtige Stelle gespult haben und punktgenau die Pausentaste lösen – in der Hoffnung, dass er vorher wenigstens angesagt wurde, über die ganze Länge lief und kein Moderator zwischendurch oder auf das Ende quatschte. Im digitalen Zeitalter nur eine Petitesse aber die hohe Kunst der Kassetten-Ära: das Mixtape. Eine Compilation, zusammengestellt für eine Person, mit teils abenteuerlichen technischen Mitteln von den verschiedensten Quellen in die korrekte Reihenfolge auf eine Kassette kopiert – und der Zielperson im stolzen Bewusstsein realer Anstrengung präsentiert. (Wie gesagt: Musik an sich war wichtig für die soziale Beziehung.)

Heutzutage eine Playlist zu verschenken, hat ungefähr den Charme eines Intim-Dinners mit Wagner-Pizza, da helfen weder Kerzen noch vielleicht okayer Musikgeschmack. Die Romantik ist raus. Musik ist ein akustisches Format geworden, zumindest für Mehrheiten. Die Verknappung durch Sozialismus oder Kaufpreis gilt nicht mehr. Die Potenzierung der Kopiergeschwindigkeit ohne Qualitätseinbußen besorgt den Rest. (Wobei man über den Begriff “Einbuße” nochmal reden muss, weil ja sogar einzelne Knackser und Sprünge, verkackte Aufnahmestarts oder Anschlüsse, gar leiernde Passagen einer eigenen Aufnahme mit konkreten Erinnerungen verbunden sind. So war das nunmal in der analogen Welt.)

Eine Festplatte voller MP3s, die man heutzutage auf jedem Schulhof bekommt (oder zugegebenermaßen auch vom Autor, wenn man Freund oder Verwandter ist), hat keinen emotionalen Wert (sondern höchstens einen Musikbildungsauftrag). Die pure Masse an enthaltener Musik entwertet das Verhältnis zu ihr und damit – letztendlich – auch den erst gefühlten und in der Folge realen Wert von Musik an sich. Und jetzt wissen wir schon, dass auch das MP3 ein Übergangsformat wie die CD ist, weil es nur noch wenige Jahre dauern wird, bis tatsächlich jeder mit dem Handy Musik aus der “Cloud” holen kann. Jeden Song, überall, immer.

Zurück möchte die nervenaufreibende Musik-Zusammenstückelei natürlich trotzdem niemand. Es ist eine Erfahrung wie der Wehr- oder Zivildienst, von dem man später sagt, ja, gut für die Charakterbildung, es wäre sicher auch ganz gut ohne gegangen. Aber es ist eben auch nicht der Maßstab für die “Raubkopie”. Das wäre deutlich zuviel der Gleichmacherei. Auf soviel musikalische Romantik darf man denn doch bestehen.

Augsburg