Was wären wir nur ohne Die Sterne? Wenn junge Großstadtbewohner des nachts flüsternd über etwas reden, das sich "Hamburger Schule" nennt, dann fällt spätestens nach 30 Sekunden dieser Name. Dabei sind die Sterne viel mehr als nur eine Band, die man kennen muss, weil sie irgendwo dazu gehört. Nein: Die Sterne sollte man kennen, weil sie eben nicht dazu gehören, vor allem wenn man das selbst nicht tut.

Im Kern steht der Protest. Songs wie Universal Tellerwäscher oder Was hat dich bloß so ruiniert? sind Hymnen gegen Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und überhaupt das, was man Establishment nennt. Solche Songs und ihre Alben fallen nicht einfach vom Himmel: 1992 haben sich die Sterne gegründet, der harte Kern besteht damals wie heute aus Frontmann, Sänger und Gitarrist Frank Spilker, Thomas Wenzel am Bass und Christoph Leich am Schlagzeug. Spätestens seit In Echt (1994) und Posen (1996) ist die Band fester Teil der alternativen deutschen Popkultur geworden. Nun folgt bereits das zehnte Album: Die Erwartungen an Flucht in die Flucht sind enorm hoch, auch wenn sowieso niemand wagen würde, von einem Fehlschlag auszugehen. Wäre auch Quatsch, denn so viel sei bereits gesagt: Die Platte ist großartig!

Wir treffen die Sterne in ihrer Kernbesetzung im Büro ihres Berliner Labels Staatsakt. Hitzewelle. Die Fenster stehen weit offen – Erdgeschoss – ob es drinnen oder draußen heißer ist, weiß man nicht. Draußen ist die Stadt, drinnen sind die Sterne, das eine kommentiert das andere, aber der Reihe nach:

Flucht in die Flucht, das klingt nach endlosem Wegrennen, Sprung in einen Notausgang der keiner ist, sondern aufgemalt auf Waschbeton. Im Zentrum der Platte steht eine Frage: "Wo soll ich hingehn?". So heißt dann auch direkt der Opener. Also: Wo soll man denn nun hingehn, was bitte soll man machen? "Die drei klassischen Antworten, die die Popkultur auf diese Fragen gibt", sagt Frank Spilker, "wären ja, entweder, sich gothicmäßig am nächsten Baum aufzuhängen, dann Protestkultur, Rebellion, Revolution oder c) Drogen, Flucht in irgendwelche Scheinwelten, Esoterik… Das war unsere Idee, mit diesem Song eine Tür in diese dritte Möglichkeit zu bauen, auch da es das bei den Sternen so noch nicht gegeben hat."

Hat es sich etwa ausprotestiert? Ist das Einzige, was bleibt, an der nächsten Ecke braunes Pulver zu schnupfen, zumindest mental zu fliehen? Sicher nicht. Das käme nicht nur einer Kapitulation gleich, sondern würde auch die Möglichkeiten der Popkultur kleiner verkaufen, als sie sind. Stattdessen sind die Songs auf Flucht in die Flucht einzelne Szenarien, aus denen man am liebsten flüchten will, oder die das Ergebnis davon sind. Zum Beispiel Innenstadt Illusionen: Fast sechs Minuten Knarf Rellöm-esquer Sprechgesang, der sich großartig dazu eignet, während Fußball-Länderspielen durch leere Straßen zu spazieren, die man danach hassen möchte. Während Knarf Rellöm sang: "Ich widmete mich der Interpretation der Stadt wie andere der von Texten", singt Frank Spilker "Das, was da an meinen Schuhen klebt ist glücklicherweise zur Abwechslung mal keine Hundescheiße".

Dabei war Spilker hier erst unzufrieden: "Mir war das fast schon zu viel, ich hab' gedacht, dass ich nicht wieder so ein Gentrifizierungs- oder Anti-Gentrifizierungs-Konzeptalbum machen will. Aber es ist einfach die Lebenswirklichkeit in der Stadt: Wenn man sich beruflich nicht verbessert, kann man sich vielleicht nicht mehr leisten, dort zu leben". Manche Themen sind eben doch zu wichtig, um zu oft beackert werden zu können, vor allem, wenn dabei großartig verstörend-verträumte Lieder herumkommen. "[Bands] sind ja auch die Ersten, die das dann betrifft. Wenn es Leute sind, die froh sind, dass sie alles gerade so schaffen, und deren Konzept dann ins Wanken gerät, weil es eben teurer wird." 

Aber zurück zur Musik: "Ich mag an [Innenstadt Illusionen], dass der Inhalt an der Form mitgeht, dass es so grammatikalisch auseinanderbricht. Und dass es driftet. Von dieser bewussten Ebene, von wegen 'Ich beschwere mich jetzt von Lebensumständen in der Stadt, über meine Mitmenschen, blablabla' zu so 'Ich werde jetzt langsam psychotisch'", sagt Frank Spilker, muss dabei zwar ein wenig lachen, aber bringt es auf den Punkt. Das Psychotische wird auf Flucht in die Flucht zum Psychedelischen, das einen weiteren Eckpunkt der Platte bildet. Das funktioniert größtenteils über die Chöre. Psychedelic wird bei den Sternen umgedeutet, steht für Verwirrung, Entfremdung; eben das, was passiert, wenn man flüchten muss.

Eines der eingängigsten Stücke auf Flucht in die Flucht ist Mein Sonnenschirm umspannt die Welt. Hier geht es, grundsätzlich, um Shitstorms, die sich aber nicht unbedingt nur im Internet zutragen müssen: "Ich finde, es gibt in jeder Gesellschaft oder auch Mikrogesellschaft einen Normierungsdruck und ein Wertesystem. Der Mechanismus ist immer der gleiche, ob er jetzt übers Internet verstärkt wird oder in einem Betrieb, wo es vielleicht auch einen starken Druck gibt. […] An dem Punkt ist mir dann auch das soziale System egal". Der Song geht dann auch ganz pragmatisch damit um: "Dies war nicht mein erster Shitstorm / und es wird auch nicht mein letzter sein / ich kann alles tun, was mir gefällt". Das sind simple Zeilen, die aber noch lange nicht trivial sind, sondern heute ganz offensichtlich einfach mal ausgesprochen werden möchten. Manchmal bildet man sich eben auch nur ein, flüchten zu müssen, vor allem, wenn man in der Musikindustrie arbeitet, und, wie Spilker sagt "zwischen Industrie und Kulturkack mäandert".

Im letzten Jahr haben die Sterne ihr 20-jähriges Jubiläum gefeiert. Trotzdem klingen sie noch frisch und wütend, genau so, wie es sein sollte. Trotzdem geht die Zeit aber auch an niemandem spurlos vorbei – Läuft man nicht irgendwann Gefahr, dass das gepflegte Eigenheim mit akurat geschnittenem Rasen plötzlich eine ganz annehmbare Option wird? Um Frank Spilker müssen wir uns wohl keine Sorgen machen: "Das ist eine sehr verbreitete Vorstellung, dass Rebellion etwas ist, was in der Jugend abgehandelt wird, und dann geht man doch in den bürgerlichen Beruf und macht das Jurastudium zu Ende. Natürlich machen das die meisten, aber die meisten sind halt Spießer. Es ist ja nicht so, dass die irgendwann mal was anderes wollten, sondern sie waren es von Anfang an (lacht)".

Kein Spießer geworden zu sein, ist in gewisser Weise eine noch respektablere Leistung, wenn man in der ostwestfälischen Provinz geboren ist. Frank Spilker wurde in Bad Salzuflen geboren, der Stadt, die in den 1980er-Jahren zeitweise im Zentrum der deutschen Popkultur lag, als das örtliche Label Fast Weltweit der Hamburger Schule aus der Ferne Starthilfe gab. Spilker hatte es selbst gegründet, gemeinsam mit Bernd Begemann (auch Bad Salzuflener!) und anderen. Vor der Flucht kam also immerhin ein Versuch, da zu bleiben. Auch wenn das nicht wirklich funktioniert hat: "Kleinstadt und Szene, das funktioniert nicht, das kenne ich aus Erfahrung", sagt er, lacht, und es sieht so aus, als seien die Sterne mal wieder angekommen.
 

(Titelfoto: Staatsakt / Text: Carsten Brück)