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Dirk von Lowtzow im großen Uncut-Interview

Tocotronic begannen Mitte der Neunziger als Spektakel. Kurze Zeit später wurden sie schließlich spektakulär. Anfangs wollte die Band einfach alles kurz und klein treten, inzwischen – auf ihren Alben “Tocotronic” und “Pure Vernunft Darf Niemals Siegen” – verbinden sie diese rohe Energie mit Präzision und mit dem Ehrgeiz, groß angelegte musikalische Experimente durchzuziehen. “The Best Of Tocotronic” zeichnet diesen Weg akribisch nach und gibt Dirk von Lowtzow die Möglichkeit zu einem ausführlichen Interview über zwölf Jahre Tocotronic.

Eine “Best Of”-Compilation riecht so kurz vor Weihnachten stark nach Ausverkauf. Was waren eure Beweggründe?
Lowtzow: Unser Label kam mit der Idee auf uns zu. Anfangs hatten wir wenig Interesse dran, aber je länger wir darüber nachdachten, desto mehr gefiel uns der Gedanke. Der jetzige Zeitpunkt, mit zwölf Jahren und sieben Alben auf dem Buckel, erschien uns einfach passend. Den Vorwurf des Ausverkaufs müssen wir uns eigentlich nicht gefallen lassen. Wir zwingen niemanden, das Produkt zu kaufen. Jeder kann für sich selbst entscheiden, ob er die Singles und ein paar Raritäten besitzen möchte oder nicht.

Neben den Singleauskopplungen sind auch jede Menge seltenes Material von euch dabei. Wie kam es zu dessen Auswahl?
Lowtzow: Wir wollten dem CD-Set ein wenig Leben einhauchen und stöberten dafür ausgiebig in unseren Archiven. Das hat allen viel Spaß bereitet und wir konnten unsere Bandgeschichte aufarbeiten: Auf der einen Seite unsere furchtbar schlecht produzierten Songs von der erste EP, auf der anderen aktuelle Touraufnahmen, die wir selbst zum ersten Man hörten. Wenn ich das Endprodukt sehe, muss ich sagen, dass sich der Aufwand gelohnt hat. Wir sind sehr zufrieden innerhalb der Band.

Ein dickes Booklet liegt den beiden Silberlingen bei. Zu jedem Song gibt es eine kleine Geschichte. “Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein” wird von euch als “großes Missverständnis” bezeichnet, warum?
Lowtzow: Anfangs besaßen die Texte von Tocotronic jede Menge Sarkasmus. Viele haben das nicht verstanden und dachten, wir wären die deutschen Nirvana oder Zöglinge der Ton Steine Scherben. Alles quatsch, denn unsere Musik hatte von Beginn an wenig mit unserem Alltag zu tun. Der Begriff “Jugendbewegung” ist in einer langweiligen Uni-Vorlesung entstanden und sollte nie im Sinne der 68er-Bewegung stehen oder einen Straßenkampf heraufbeschwören.

Ist dies ein Einzelfall, oder seid ihr Wiederholungstäter?
Lowtzow: Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage (lacht). “Meine Freundin und ihr Freund” ist ein weiteres Indiz: Ich habe niemals die Freundin eines Freundes an der Pommesbude kennen gelernt. Die Texte der Anfangszeit wurden in der Presse zwar immer als “Alltagslyrik” verkauft, waren aber keine erlebten Geschichten. Unsere Musik ist und bleibt Kunst, egal ob mit drei Akkorden, oder Streicherbackground.

Trotzdem ließt man oft, dass eure ersten Platten “nahbarer” gewesen sind, als die letzten Veröffentlichungen. Spürt ihr das selbst?
Lowtzow: Nahbar ist ein Begriff, den ich absolut unpassend finde, wenn es um Tocotronic geht. Weder mit Trainingsjacke und Parka, noch mit Hemd und Anzugshose repräsentieren wir nie diese netten Typen von nebenan. Auch bei unseren Konzerten gehen wir nicht mit jedem Besucher danach ein Bierchen trinken, oder schütteln jeden Anwesenden die Hand. Wenn Leute auf die Bühne kommen und schreien: “Geil, dass ihr da seid! Habt ihr auch gute Laune?”, finde ich das zum Kotzen.

Mit der Zeit wurde er Stil von Tocotronic professioneller und experimentierfreudiger. Die Platte “K.O.O.K.” gab den Startschuss zu einer langen Debatte, ob ihr das dürft, euch in diese Richtung weiterentwickeln. Wie stehst du inzwischen dazu?
Lowtzow: Bei unserer 1997 erschienen Platte “Es Ist Egal, Aber” merkten wir, dass die Luft ein wenig raus war. Es kam uns vor, als gäbe es einen Tocotronic-Steckkasten aus dem wir die Songs nur zusammenbasteln müssen (lange Pause). Ganz ehrlich, so darf keine Band am Leben bleiben. Niemand kann von uns verlangen, dass wir auf Knopfdruck immer die gleichen Protestsongs aus dem Ärmel schütteln. Das geht zwei, drei Platten gut und dann musst du umdenken, oder du spielst in zehn Jahren noch den gleichen Stiefel runter.

Vielleicht habt ihr dieses Anliegen vor sechs Jahren nicht deutlich genug gemacht?!
Lowtzow: Wir hatten eine kleine Krise innerhalb einer Band. Kein großes Ding, aber bedrückend genug, um die eigenen Ansprüche zu überdenken. Es folgte eine Phase, in wir uns alle sehr zurückzogen. Danach wollten wir nicht mit Bandinterna an die Öffentlichkeit. Dass diese Neuorientierung solch eine Lawine lostritt, hatte in die Band niemand geahnt – änderte aber auch nichts an dem weiteren Werdegang.

Konsequenter Weise wurden auch die Tour- und Albumplakate viel anspruchsvoller. Wo früher noch ein witziger Comicstrip abgebildet war, stand plötzlich “Volle Power! Depression! Aberwitzig! Postmodern!” Ist euch der Humor abhanden gekommen?
Lowtzow: Auf keinem Fall. Ich finde einen Satz wie “Für die Ewigkeit und seiner Zeit voraus” genauso lustig wie eine Comiczeichnung, auf der wir als wütende Hasen Werbung für unser Album “Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren” machen. Das ist halt Geschmackssache: auf der einen Seite ist eine Zeichnung sehr direkt und anderseits kannst du über einen Satz sehr lange nachdenken. Wichtig ist, dass du deinen Ansprüchen treu bleibst.

Viele sprachen nach “K.O.O.K.” von einer zweiten Phase im Schaffen von Tocotronic. Empfindest du da rückblickend auch einen Schnitt?
Lowtzow: Hättest du mir die Frage vor zwei Jahren gestellt, wäre sicherlich ein eindeutiges “Ja” über meine Lippen gerutscht. Unsere Einstellung dazu hat sich aber ein wenig geändert. Grund war die Arbeit an unserem “Anniversary”-CD/DVD-Set zum zehnjährigen Geburtstag. Zum ersten Mal in unserer Karriere mussten wir uns bewusst mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Dies hat unser aktuelles Album “Pure Vernunft Darf Niemals Siegen” definitiv beeinflusst.

Du bist bei Tocotronic hauptverantwortlich für die Songtexte. Wie bereist erwähnt, sind eure Lyrics in den letzten Jahren immer verschlüsselter und mystischer geworden. Hast du manchmal Bedenken, dass deine Intention den Hörer nicht erreicht?
Lowtzow: Ich habe keine Intention. Damit meine ich nicht, dass ich nicht etwas aussagen will, doch Kunst ist immer der freien Interpretation ausgesetzt. Picasso hat einmal gesagt, er sucht nicht, er findet. Wir sind wahrscheinlich der umgekehrte Picasso, wir suchen und wollen nichts Bestimmtes finden. Daher habe ich auch keine direkte Message, die ich dem Hörer übermitteln will. Das Entscheidende bei Musik ist, dass du dich damit auseinandersetzt. Wenn unsere Texte das bei den Leuten schaffen, bin ich sehr zufrieden.

Ich frage deswegen, weil ihr euch im Nachhinein etwas Missverstanden gefühlt habt, als euer Song “Aber Hier Leben, Nein Danke” als Antwort auf die letztjährige Radioquotendebatte verstanden wurde.
Lowtzow: Wahrscheinlich waren es die Umstände. Ich fand es aber nie schlimm, weil wir ja wirklich was gegen diese Deutschtümelei haben. Inzwischen spricht zwar keiner mehr vom “schönen neuen Land” und meint, wir könnten auch mal ein bisschen stolz auf das Erreichte sein, aber da braut sich immer wieder was zusammen…

Stichwort: Du bist Deutschland?!
Lowtzow: Genau diesen Mist meine ich. Wenn ich das höre. “Du bist Albert Einstein!” (lacht) Bin ich nicht. Mein Name ist Dirk von Lowtzow und mehr stelle ich auch nicht dar. Vielleicht hat diese anhaltende Nationalisierung was mit der WM 2006 zu tun? Keine Ahnung, wer auf so schwachsinnige Slogans kommt – Du bist Deutschland! Was soll das für mich bedeuten, können die das mal erklären?! Solche Spots entstehen nur aus purer Langeweile und es wird kein Meter weitergedacht, als die Filmrolle lang ist. Das Thema ist mir echt zuwider.

Lass uns zu Tocotronic zurückkommen. In einem Interview meintest du letztens: “Sex, Drugs & Rock’n’Roll gibt es in der klassischen Form nicht mehr.” Schon mal was von Pete Doherty und den Libertines gehört?
Lowtzow: An diese Aussage kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass unser letzter Tourmanager eine Abends meinte: “Jungs, ihr seid die einzige Band, die ich kenne, die jeden Abend nach der Show einen Drauf macht!” Betrachtet man den Bier- und Zigarettenkonsum unserer letzten Tournee, behält er wahrscheinlich Recht. Spätestens wenn wir nach den Konzerten an unseren Verkaufstand gehen, wechselt wie durch Zauberhand ein Bier das Andere. Sicherlich trinken wir jetzt nicht mit jedem einzelnen Besucher – wir wären längst Alkoholiker – aber wenn es die Zeit erlaubt, sagt niemand nein (grinst).

Apropos Konzerte. Wenn du heute in die Hallen schaust, inwieweit siehst du da eine andere Fanschar als noch vor zehn Jahren, bei euerer ersten Tour?
Lowtzow: Ich glaube, unsere Hörerschaft ist vielschichtiger geworden. Immer öfter erlebe ich, dass wir Menschen mit unserer Musik erreichen, die älter sind als wir. Teilweise nehmen sogar die Eltern ihre Töchter und Söhne mit zu den Gigs. Verkehrte Welt, oder? Bei Tokio Hotel müssen die Kinder ihre Eltern mitschleifen, bei uns passiert das auch mal andersrum (lacht). Mir gefällt das sehr, dass sich auch Menschen mit unserer Musik auseinandersetzen, für denen unser ruppiges Frühwerk ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Es gibt seit Jahren das hartnäckige Vorurteil, dass eure Live-Präsenz der Albumqualität nicht gleich kommt. Ich wärt zu reserviert auf der Bühne.
Lowtzow: Ich weiß nicht, was manche Konzertbesucher von uns verlangen? Sollen wir auf die Bühne gehen und Schunkellieder wie “Zehn Kleine Jägermeister” singen. Nichts gehen Die Toten Hosen, aber das funktioniert bei uns nicht. Wichtig ist für uns, dass wir die Songs ordentlich darbieten und einen guten Querschnitt unseres Schaffens übermitteln. Ich meine, was haben die Fans davon, wenn jemand auf der Bühne quatscht ohne Ende und in einer Stunde nur drei, vier Songs spielt? Wir haben da eine andere Einstellung.

Wo du gerade von euren Standpunkten redest: Was sind die einfachsten Merkmale dessen, was ihr seit zwölf Jahren macht?
Lowtzow: Eine schwierige Frage! Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was würdest du sagen?

Viele Künstler benutzen gerne das Wort “authentisch” um auf solche Fragen zu antworten.
Lowtzow: Diesen Begriff mag ich nicht. Tocotronic wollten nie “authentisch” klingen. Ich würde zu keiner Platte von uns sagen: Das sind zu hundert Prozent “Wir”. Musik spiegelt dich nur als Künstler und nicht als Menschen wieder.

Im Booklet zur “Best Of” steht ein mögliches Merkmal: “Wir haben unserem Unmut jederzeit Luft machen müssen.”
Lowtzow: Das trifft die Sache schon eher. Egal ob unsere Texte direkt oder verrätselt waren, es ging immer darum, den eigenen Standpunkt klar werden zu lassen. Auf den ersten Platten liebäugelten wir noch sehr mit den Wort “Ich”. Fast jedes Lied fing damit an oder verarbeitete es. Inzwischen versuche ich bei den Lyrics eher allgemeinere Umschreibungen für meine Anliegen zu finden. Zurückblickend würde ich sagen, dass der Begriff “Unmut” ganz gut passt, wenn wir über zwölf Jahre Tocotronic reden.

Ihr ward immer eine sehr produktive Band. Wie geht es nach dem “Best Of” weiter?
Lowtzow: Kaum zu glauben, aber wir haben schon einige Lieder für ein neues Album fertig. Ich weiß auch nicht, warum es momentan nur so fließt?! Aber trotzdem werden wir uns Zeit lassen und erstmal unseren Nebenprojekten einen Besuch abstatten. Ich werde mit Thees Mynther an einem neuen Phantom/Ghost-Album arbeiten und Jan dreht die Regler bei seiner Band Bierbeben wieder bis zum Anschlag auf. Arne und Rick sind noch unentschlossen.

Mit ihren sieben Alben haben sich Tocotronic vorläufig von jeden hippen Musikdiskurs abgekoppelt. Selbst von konzeptionell sehr anspruchsvollen Bands wie Die Sterne, Blumfeld oder Kante trenne sie Welten. Ihre mittlerweile sehr bekannten Songs verschafft die erste Werkschau “The Best Of Tocotronic” ein würdiges Zuhause. “Wenn ich für die Zukunft einen Wunsch frei hätte, dann, dass wir auch weiter so kreativ bleiben, wie wir es in der Vergangenheit waren”, erklärt Dirk von Lowtzow abschließend. Und irgendwie reicht das auch völlig.

Text: Marcus Willfroth

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