Listen erstellen, Stücke neu sortieren und immer wieder anders anordnen — kaum jemandem liegt das individuelle Arrangieren von Dingen so sehr, wie uns Musikfans. Grund genug für uns, mal wieder diesem Laster nachzugehen.
Mal ehrlich: wir Musikliebhaber sind neurotische Zwangsauflister. War es früher schlicht die geflüsterte Liebesbekenntnis “Darf ich dir ein Mixtape aufnehmen?“, so sind es heute soziale Netzwerke, die uns die nötigen Plattformen bieten, unseren gepflegten Musikgeschmack zur Schau zu tragen. Zum einen können diese Übersichten also in einem hoffnungslosen Pool cooler Bandnamen und möglichst ‘selbst entdeckter Künstler’ enden.
Die Königsdisziplin des musikaffinen Listgeeks besteht aber in der säuberlichen Gliederung seiner favorisierten LPs am Ende eines jeden Jahres. Der höchst personalisierte Index soll dann nicht nur allen digitalen Abonnenten einen Dienst erweisen und guten Geschmack missionieren. In erster Linie folgt die Liste einem höchst narzisstischen Prinzip. Sie ist der blanke Versuch, sich über fremde Fassaden zu profilieren und im Stile eines streberhaften Connaisseurs ein mehr oder weniger egoistischer Versuch, Lob für die eigene Kritikfähigkeit zu erhalten.
Ein gutes Alibi für uns also — der Jahresbalken hat die 50%-Marke überschritten — einen kleinen Querschnitt durch die Platten machen, die uns in 2012 tief berührt und fest ergriffen haben und vor allem nicht mehr loslassen wollten. Und zu versuchen dieses verrückte Jahr der Genre-Überschreitungen, das Jahr, in dem selbst der purste Pop Einzug in die avantgardistischen Regionen hielt, greifbar zu machen.
John Talabot – “fIN”
(Permanent Vacation, 27.01.12)
Pitchfork, The Guardian, Resident Advisor – beinahe alle großen Opinion Leader haben „fIN“, das Debütalbum von John Talabot aus Barcelona, mit Lorbeeren überschüttet. Nein, die gesammelte Musikjournaille irrt nicht. Dem Spanier gelingt ein wahnsinniger Spagat zwischen Sentimentalität und Rausch. Hinzukommt die eingängige Sicherheit, mit der er durch die einzelnen Gefilde streift. Empfangen uns deep-housige Träumereien, reißen uns Indie-Disco-Nummern den Boden unter den Füßen weg, ehe selbst Slow-Motion-Epen den Charme in der Ruhe zu versprühen wissen – karibische Exotik-Tunes inklusive. Dass das ganze auf Albumlänge funktioniert, steht für nicht nur für den Facettenreichtum der LP, sondern ganz simpel für das riesige Talent von John Talabot.
SW
John Talabot – “Depak Ine” (Italic, 02.03.12)
Es ist schlichtweg Schwachsinn, den drei jungen Herren zu bescheinigen, sie würden das Erbe von Kraftwerk antreten. Weder ist es die Intention von Lucas Croon, Martin Sonnensberger und Nikolai Szymanski, noch ist ihre Musik als Pioniergut zu betrachten. Was Stabil Elite können: eine anti-schüchterne Begegnung mit den Wurzeln Düsseldorfs, sodass auf der retrofuturistischen Welle Dada-Texte mit analogen Beats verbunden werden. Es ist gerade der Spagat zwischen der von ihnen aufgegriffenen Vergangenheit und dem restaurations-ähnlichen Transfer in die Jetztzeit, der Neuartigkeit vermittelt. Ihr Debüt brodelt zwischen ekstatischer Synthesizermusik und Stromgitarren, zwischen rudimentärer Lyrik und selbstbewusster Eigenwilligkeit. Eine, wenn nicht die größte deutschsprachige Überraschung. SW
Stabil Elite – “Expo”
(Kompakt, 02.03.12)
WhoMadeWho gilt seit jeher als grandiose Liveband. Noch vor ein paar Jahren wurde ihr Sound von einem zwar electrolastigen aber doch expliziten Funk angetrieben, den sie bis heute nicht aufgegeben haben. Allerdings entwickeln sie jetzt in den besten Momenten – und das sind eine ganze Menge – einen unterkühlten Groove, der tatsächlich technoide Anmut mitbringt. Es gibt den Funk-Bass, das inutitive Schlagzeug und vor allem den Leadgesang, der sich in einer Art limitierten Soul-Falsett-Geschmeidigkeit à la Junior Boys übt. Jeder der neuen Tracks von WhoMadeWho hat diesen Zug zur untergründig brodelnden Energie, die besten von ihnen zügeln sie über die ganze Länge und erzeugen so ein enormes Spannungslevel, in dem schon kleine Variationen bewirken, wofür andere Musiker ausgewachsene Breaks benötigen. Unser Interview gibt es
»hier.
SL
WhoMadeWho – “Running Man / The Sun”
Grimes – “Visions”
(4AD/Beggars Group, 09.03.12)
Eins der größten Ziele eines Jahrerückblicks ist die Chance, vermeintliche Platten des Jahres aus einer anderen Perspektive neu zu evaluieren. Viel Zeit kann vergangen sein, die anfängliche Euphorie vom ersten Hören ist oftmals schon längt erloschen. Nun zählen die harten Fakten. Grimes’ “Visons” zeichnete zu Beginn des Jahres nur härtere Konturen um das Subgenre, was viele als Witch House betitelt hatten. Die junge Kanadierin erstand für einen wunderbaren Moment zur Königin des clubtauglichen Halbschlafs und schrieb der vorwiegend technoide Bewegung vor allem R&B-lastige Schlenker und abwechselnde Moll/Dur-Reibungen zu. Aus heutiger Sicht wirkt das Album nur noch mächtiger, die Melodien noch eindringlicher und Claire Bouches Geistermusik erst wirklich greifbar. JVMS
Grimes – “Genesis” (Live)
(Hyperdub, 16.03.12)
William Bevan ist ohne Frage die Persona grata, wenn es darum geht, den Begriff Dubstep in den Mund zu nehmen. Während das Zwitter-Genre eine – Achtung, Euphemismus – schlimme Entwicklung genommen hat, steht Burial für das lodernde Licht in dieser traurigen Parallelwelt. Dabei sind seine Tunes seit jeher Sinnbild für die industrielle Kälte (englischer) Großstadtgassen. Mit „Kindred“ setzt der Londoner an seiner vorherigen EP „Street Halo“ an, stellt schmollende Basslines an die Seite von Synth-Arpeggios und traut sich mit dem Track „Loner“ gar auf’s Tanzflächen-Terrain. Oder doch eher Paranoia, Wahnvorstellungen, Schlaflosigkeit? Burial bleibt der spannendste und geheimnisvollste Produzent unserer Zeit. SW
Burial – “Loner”
Julia Holter – “Ekstasis”
(Rvng Intl., 30.03.12)
Julia Holter ist eine zerbrechliche Persönlichkeit. Mit den Attitüden einer jungen Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin trägt sie ihre klassisch angehauchten Stücke oftmals vor, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die über das Klavier gleitenden Finger zu werfen. “If you call out, I will follow” — in ihren Songs versucht Julia in sich selbst hineinzuhören, ihre Musik ist etwas, das in ihr selbst existiert. Wie ein siebter Sinn, dem sie vertraut und auf jeden Weg folgt. In Ekstatis wird dieses Bild nur allzu deutlich. JVMS
Julia Holter – “Our Sorrows”
(Beggars Group, 06.04.12)
Musik muss im Gegensatz zur Literatur nicht immer eine ausufernde Botschaft vorweisen, den Melodien obliegt die Freiheit auch ohne intellektuellem Tiefgang zumindest emotional zu berühren. Diese Philosophie untermauert “Boys & Girls”, das musikalische Debüt des Quartetts Alabama Shakes, geradezu überdeutlich. So zusammengewürfelt der Stil des ersten Langspielers erscheint, so mannigfaltig sind auch die Mitglieder der 2009 gegründeten Band um Sängerin Brittany Howard. Jeder brachte seine persönlichen Vorlieben in die ersten Jam-Sessions mit ein ― so entstand ihr unnachahmlicher Stilmix aus Blues, Rock, Punk, Pop sowie Funk. Das Resultat wirkt, als hätte man in Papa’s Plattenkiste zwischen Otis Redding und Led Zeppelin gegriffen ― wie aus einer anderen Zeit. Unverblümt, lässig und schwungvoll. SL
Alabama Shakes – “Hold On”
Beach House – “Bloom”
(Cooperative Music, 11.05.12)
“Bloom” ist der heimliche Spalter des Jahres. Während das objektive Publikum vor allem eine angebliche Eintönigkeit bemängelte (“Es wird fad”), freuen sich eingefleischte Fans über den nahtlosen Übergang vom zwei Jahre älteren Vorgänger (“Das Beach-House-Gefühl geht wohl niemals zu Ende”). Beiden müssen aber einsehen, dass wohl ein Aufschrei durch die Poplandschaft gegangen wäre, hätten sich Victoria Legrand und Alex Scally von ihren ikonischen, verträumten Aufnahmen distanziert, die ihren Werdegang seit jeher prägten. Beach House gelten als Fleischwerdung der vereinten Subgenre Dream Pop und Shoegaze und “Bloom” darf gut und gerne als Referenzwerk der Bewegung angesehen werden. JVMS
Beach House – “Lazuli”
(Sinnbus, 11.05.12)
Das grundlegende Problem: Popmusik kann alles sein, oder eben nichts. Wagen sich mutige Künstler an diesen riskanten Balanceakt, endet das oft mit opulenten Arrangements und brachialer Stimmgewalt. Das deutsche Duo Me And My Drummer verknüpft auf seinem Debüt “The Hawk, The Beak, The Prey” diese Gegensätzlichkeiten. Jedoch nur mit den Grundpfeilern Klavier, Synthesizer, Schlagzeug und Gesang. Somit erschaffen sich Charlotte Brandi und Matze Pröllochs ihr ganz eigenes und magisches Klanggewand. Ihre Musik will dabei ganz bewusst nicht profan oder fröhlich sein, sondern viel mehr schwelgerisch, nachdenklich und schwermütig. Am Ende haben sie mit dieser magischen Platte nicht nur den Popolymp im Schnellschritt bestiegen, sondern sich vor allem in die Herzen der Hörerschaft gespielt. Unser Interview findet ihr »hier und die Malstunde gibt es »hier. SL
Me And My Drummer – “You’re A Runner”
(Memphis Industries, 11.05.12)
Als Konsensalbum haben wir das Debüt von Channy Leanagh und ihrem rhythmisch-melodischen Trio einst gefeiert. Und wir bleiben dabei. Dieses Album ist nicht nur geisterhaft und kraftvoll zugleich, sondern weiß gleich mehrere Hits anzubieten. Die Zutaten sind bekannt: Autotune, Effekte, Bass, Drum-Doppel und den Minneapolis-Geist von Gaygns ergeben mitunter tieftraurige (Anti-)Folksongs zwischen R’n’B und Electronica. Die tanzbaren Beats kommen von Ryan Olsen, der den Groove gepachtet zu haben scheint, derart eindringlich umarmt Poliça sowohl Folk-Barden als auch Post-Punker. Und das ohne einen einzigen Gitarrenton. Ein bärenstarkes Debüt. Unser Interview gibt es »hier. SW
Poliça – “Lay Your Cards Out”
(Warner, 18.05.12)
Schon wieder eine Danger Mouse-Produktion? Ja, der Gute kann wohl einfach nicht die Finger vom Mischpult lassen. Aber eine Gabe muss man ihm zugestehen, er hat ein Ohr für großartige Musik. Bei dem Herrenduo Electric Guest aus Los Angeles fiel ihm die Entscheidung leicht. Die Zwei haben sich ihre Nische gebaut und zimmerten sich aus R’n’B, Funk, Pop, Rock und Soul ihre eigene Schublade zusammen. Herausragend ist sowohl die leichtfüßige Tanzbarkeit der Rhythmik als auch das Ohrwurmpotential eines jeden Stückes auf dem Erstling. Euphorie und Optimismus bilden den rote Faden des Albums. Das macht “Mondo” zu etwas Markantem im allgemeinen Pop-Brei, damit gehören sie auf sämtliche Indie-Festivals des Jahres. SL
Electric Guest – “Troubleman”
Phon.o – “Black Boulder”
(50 Weapons, 18.05.12)
Phon.os Release stellt so etwas, wie eine Suche nach ursprünglicher Identität mitten auf dem Dancefloor dar. Seine blaue Blume könnte dabei der schwarze Boulder auf dem Plattencover sein — ein vom Eis geschliffener Findling, schwebend mit okkulter Kristall-Optik. Phon.o ist ein alternder Hipster, dessen cooles Insiderwissen langsam aber sicher seinem Verfallsdatum entgegenstrebt. Ohne jede Ironie, aber auch ohne jede Simulation irgendeiner historischen Vergangenheit hat er mit “Black Boulder” einen organischen Minimalsound geschaffen, der gleichermaßen echt wirkt wie er neben der Spur liegt. Und so — sicher nicht mit letzter Tinte — seinem naturnahen Minimalentwurf ein gebührendes Denkmal gesetzt.
JVMS
Phon.o – “Leave A Light On”
(Ki Records, 15.06.12)
Für Liebhaber der sehnsüchtig-wehmütigen Produktionen eines Trentemøller oder Pantha Du Prince gibt es seit kurzem Nachschub aus dem hohen Norden. Im beschaulichen Greifswald, unweit von zischenden Ostseewellen und einsamen Wintertagen, entdeckte Christian Löffler sein Talent am Mischpult und in der Kunst. Mit seinem Langspieldebüt “A Forest”, aufgenommen in drei Monaten der Isolation in einer Waldhütte, ist der Soundgestalter nur als bewundernswerter Autodidakt der Kreativität zu bezeichnen. Die triste Umgebung hat direkten Einfluss auf die klanglichen Samples des Langspielers genommen. Das Brechen der Wellen, das Rascheln der Blätter und die hypnotischen Rhythmen klingen intim, berührend oder tanzbar. — Ein sehr vielversprechender Anfang. SL
Christian Löffler – “Blind”
Dirty Projectors – “Swing Lo Magellan”
(Domino Records, 06.07.12)
Vielschichtige Harmonien treffen auf minimalistische Soundstruktur. In teils psychedelischen, teils locker beschwingten Stücken erzählt Bandleader David Longstreth von der Angst sich zu verlieben, Gehirnwäsche und seinen ehrlichsten Zweifeln. Gleichzeitig transportiert das zweite Album der Dirty Projectors Gefühle, wie Vorfreude und Lampenfieber — auf eine Weise, wie sie intuitiver nicht wirken könnte. “There is an answer / I haven’t found it/ But I will keep dancing until I do” lautet der entzückende Beschluss. “Swing Lo” ist der überschwängliche Bericht von einer Odyssee, die erst noch geführt werden muss. Und schon jetzt eins der mutigsten Popalben des Jahres. JVMS
Dirty Projectors – “Gun Has No Trigger”
Twin Shadow – “Confess”
Wie viel und vor allem wie viel Falsches ist schon über George Lewis Jr.’s Passion, Inspiration und Jugenderinnerung – dem Motorradfahren – geschrieben worden. Dabei bietet das zweite Album als Twin Shadow doch genug Stoff. Mit einer gehörigen Verve für 80er-Melodramatik brettert Lewis Liebeshymnen in die Ohren, die auch im Stadion funktionieren. Mitgrölen? Check. Herzschmerz auskosten? Check. Liebemachen? Check. „Confess“ funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen, das macht es zum großen Popalbum. Auch wenn er sich hier und dort bei Fragmente von The Cure und U2 bedient, tritt der Kitsch niemals ins Scheinwerferlicht. Die Hipster-Rolle streift er ab, genauso wie den Wave vom Debüt „Forget“. Alles richtig gemacht. Unser Interview gibt es »hier. SW
Twin Shadow – “Here Comes The Flood” (Peter Gabriel Cover)
Text: Sophie Lagies, Josa Valentin Mania-Schlegel, Sebastian Weiß