Mit dem Erfolg von Sendungen wie RuPaul’s Drag Race sind Dragqueens in den Fokus des Mainstreams gerückt. Sie sind auffällige Zeichen einer Community, werden gefeiert und sind durch ihre Sichtbarkeit zeitgleich leider auch schnelle Opfer von Verurteilungen, wie Sat1 letzte Woche mal wieder desaströs zeigte. Doch bilden Dragqueens als Kunstfiguren eine wahrgewordene Utopie in einer Gesellschaft, die auf Vorurteilen und Ausgrenzung sich aufbaut? Ein Gespräch mit Marcella Rockefeller über Dragqueens als Hülle einer Identität, Musik und politische Notwendigkeit.  

Motor.de: In deinem Song „Original“ erzählst du wie deine Oma dich unterstützt hat. Wie genau war dein Weg zum Dragqueen Dasein?

Marcella: Hätte mir früher jemand gesagt, dass ich als Dragqueen ein Album veröffentlichen würde, hätte ich gesagt „du spinnst“ (lacht). Aber ich hatte schon in der Grundschule bei der Theateraufführung die böse Hexe des Westens gespielt – und es gab für mich auch nie Probleme, wenn ich diese weiblichen Figuren darstellen wollte. Am Ende ist es wie bei vielen anderen Dragqueens durch Karneval und Lady Gaga entstanden. Lady Gaga ist für mich einfach eine der größten Dragqueens unserer Zeit, weil sie genau das gleiche macht: Sie trägt riesige Perücken und Kostüme, ist einfach eine Kunstfigur und das hat mich schon immer begeistert. Als dann hier in Köln wieder Karneval war, hatte ich mit meinen Freunden ausgemacht, dass wir Jungs alle als berühmte Frauen gehen, und da bin ich dann als Lady Gaga gegangen, habe als diese gesungen und damit fing es irgendwie an. 

Motor.de: Würdest du die Dragqueen-Szene generell als Umsetzung einer Utopie sehen und warum hadern manche Menschen so sehr mit dieser Kunstform?

Marcella: Ich glaube das Problem liegt einfach darin, wie Menschen zu einer gewissen Zeit zivilisiert werden. Grundsätzlich gab es die Kunst des Verkleidens schon im alten Rom. Früher war es Frauen nicht gestattet, Theater zu spielen und dementsprechend mussten die Männer die Frauenrollen übernehmen. Daher munkelt man auch, dass der Begriff „drag“ von “dressed as girl” kommt, aber da gibt es verschieden Herkunftstories. Das krasse ist, sobald mich ein Kind sieht, dann ist da auch heute noch keine Verurteilung, sondern bloße Freude. Kinder sind total verwundert von dieser Erscheinung und finden das total interessant. Das sind dann die Momente, wo du diese reinen Seelen sehen kannst, die eben noch nicht mit Hassgedanken bedrängt wurden. Kinder nehmen uns total an. Ich mein klar, werde ich immer auf der Straße angeschaut, aber nen bisschen Provozieren ist ja auch die Quintessenz davon.

Ausgrenzungen in der eigenen Community

Motor.de: Inwiefern ist das Dasein als Dragqueen für dich eine politische Haltung?

Marcella: Sobald du als Dragqueen in Erscheinung tritts ist das meiner Meinung nach schon ein politisches Statement. Ich mein selbst innerhalb der community werden wir angefeindet, weil wir Dragqueens beim CSD so laut und schrill (omg ich hasse das Wort schrill!) und auffällig wären. Bei solchen Statements denke ich mir halt immer: Befasst euch doch bitte mal mit eurer Geschichte! Wer waren den die Ersten, die in der Christopher Street die Steine geworfen haben? Das waren die Schwarzen, das waren die Sexarbeiter*innen und die Dragqueens und Transvestiten. Dank dieser Menschen, die leider zum Teil auch heute noch verurteilt werden, haben wir diese verbesserte Situation der Community heute. Die Bewegung wurde nicht vom “normalen” Schwulen gestartet.

Motor.de: Welche Ausdrucksform schätzt du am meisten am Dasein als Dragqueen?

Marcella: Marcella ist in der Zwischenzeit wie so eine große Schwester für mich geworden (die aber natürlich wesentlich jünger ist als ich!). Ich sag immer, ich bin extrovertierter Introvert, weil als Privatperson ist es mir sehr unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. Ich mach allerdings auch kein Geheimnis daraus, wer unter der Maske steckt. Ich habe Kollegen, die trennen das komplett. Aber mir war das nie wichtig. Ich glaube das sind einfach zwei Erscheinungsformen von mir, die aber beide das gleiche Herz und die gleiche Message haben. Ich glaube nicht, dass es der Fassade einen Abbruch tut, wenn die Leute wissen, wer darunter steckt, aber als Marcella bin ich einfach mutiger und lauter. 

Die Befreiung der Kunstfigur

Motor.de: Inwiefern ist dieses Album für dich eine wahrgewordene Utopie?

Marcella: Zehn Jahre lang habe ich nun die Leute mit dem unterhalten, was sie von einer musikalischen Dragqueen erwarten. Sprich: Clubbeats. Aber das war eben immer nur die Hülle der Dragqueen, die die Leute unterhalten hat und nicht mein oder Marcellas Herz. Unter diesen Erwartungen konnte ich mich selbst nie präsentieren. Ich meine, ich kann schlecht um drei Uhr nachts im Club stehen und ne Ballade wie „Original“ singen, da wäre die Stimmung ja dezent runtergerissen. Aber mittlerweile will ich mich auch einfach mal mitteilen und ich finde 12 Jahre nach Erschaffung der Kunstfigur ist es auch an der Zeit, dass sie reden darf.

Motor.de: Wie sähe die perfekte Utopie aus?

Marcella: Wenn jeder leben könnte, wie er will, solange er niemanden schadet, ohne davon von anderen verurteilt zu werden aufgrund seiner Entscheidungen. Man kann andere Meinungen haben, ich kann sie auch aushalten, solange sie vernünftig kommuniziert werden. Außerdem würde meine perfekte Utopie auch beinhalten, dass Kinder sich nicht mehr outen müssen. Dass es einfach normal ist, dass sich Eltern freuen, wenn sich ihre Kinder verlieben und das Geschlecht egal ist. Dass kein Kind mehr denken muss, es wäre falsch, nur weil es einer gewissen Norm nicht entspricht. Das ist eine Utopie, für die ich kämpfe. 


Hier könnt ihr Marcella auf Instagram folgen und hier könnt ihr Marcellas Album bestellen. Das Album wurde übrigens von Ulf Sommer und Peter Plate von Rosenstolz geschrieben!

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