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The National luden St. Vincent als Vorband und uns als glückselige Pilger in die Zitadelle Spandau nach Berlin ein. So viel Großartigkeit können zwei Ohren und Augen nicht fassen. Deshalb Er so, Sie so #2:
Er so:
Wo ist die Couch? Ein Konzert wie eine Therapiesitzung, aber nicht eine bei einem wirren Mist erzählenden Scharlatan, sondern eine bei einem guten Freund, der einen versteht und einem sogar helfen kann. In der Tat fühlt sich St. Vincent als Vorband und The National direkt danach beim ersten mal Hören so an, als hätten all die durchsoffenen Nächte endlich ihre Arbeit getan. Aber nein: Der Whiskey darf weiter fließen, denn das passiert wirklich; in Berlin in der Zitadelle Spandau, Open Air, an einem Abend mit Sonne. Welcome to Utopia.
St. Vincent. Was da auf der Bühne steht, ist alles, nur kein Mensch. St. Vincent ist die perfekte Außerirdische von einem weit entfernten Planeten, auf dem Gitarren zu den eigenen Gliedmaßen zu gehören scheinen. Noch nie habe ich eine so dermaßen lässige Performance erlebt, die gleichzeitig so unfassbar perfekt ist: St. Vincent wird nicht ohne Grund als eine der besten zeitgenössischen Gitarristinnen verstanden, und wenn sie dazu absolut rein die auch noch so absurd hohen Momente ihrer Lieder (Cruel!) singt, und Applaus daraufhin mit einem nicht Arroganz, aber einfach absolutes Understatement ausstrahlenden Nicken quittiert ohne ein Wort zu sagen, dann weiß man, dass hier etwas Besonderes passiert. Das ist nicht irgendjemand, das ist St. Vincent, und die hat auf ihrem Heimatplaneten bestimmt mit dem Erfinder der Musik gefrühstückt. Zumindest mit Matt Berninger. Nach einem fast wortlosen, aber trotzdem äußerst intimen Auftritt könnte man bereits verliebt nach Hause gehen, St. Vincent hinterher schmachtend über den Bürgersteig schweben und dabei zufrieden sein mit sich und der Welt. Geht aber leider nicht, denn da war ja noch was: Auftritt The National.
Ich oute mich: Eigentlich wollte ich The National gar nicht mal so toll finden. Erstens hatte St. Vincent bereits sämtliche Endorphin-Vorräte meines Gehirns durch ihren sirenenhaften Gesang in sich eingesogen, zweitens fehlte mir schon länger die intrinsische Begeisterung für das, was im Zirkel um den ominösen Matt Berninger passiert. Schließlich könnte man geneigt sein, hier billige Melancholie für die Massen zu unterstellen: Hipster schmieren sich Tränen aus Club-Mate in die Augen, um ihrer Band scheinbar total berührt zu attestieren, dass diese sie ja total gut versteht, und dass auch sie ihre Band total gut verstehen, und dass hier gerade etwas ganz besonderes passiert, obwohl nur ein Hipster, der nichtmal wirklich besoffen ist, gehört hat, dass er The National jetzt ganz schnell unbedingt super finden muss. Aber gut, lassen wir das auf uns wirken:
Bereits in der ersten Hälfte des Sets stellt sich heraus, dass The National in jedem Fall schonmal einfach eine verdammt gute Live-Band sind: Der möglicherweise betrunkene, definitiv herum torkelnde Matt Berninger spult nicht mal eben ein Programm ab, sondern er scheint es zu leben. Man würde ihm glauben, dass er gerade eben seine Frau, sein Haus, zehn Kinder und ein Dutzend niedliche Welpen verloren hat, dann darf, nein, muss man betrunken sein, besoffen vor Melancholie. Berninger ist genau in der richtigen Stimmung, die er sich mit aller Kraft auf das Mikrofonstativ stützend in alle Richtungen heraus strahlt. Sieht nach einem ziemlich guten Konzert aus.
Daraus wird in der zweiten Hälfte des Sets aber ziemlich schnell ziemlich viel mehr: Spätestens ab England beginnt es zu brodeln. Die ununterbrochen stumm über die Zitadelle gleitenden Flugzeuge scheinen nur noch am Himmel zu sein, weil The National sie bestellt haben, es wird langsam dunkler, weil The National das so wollen, und man selbst wird schwerer und schwerer, schaut nach vorne, und weiß, dass es gut ist – weil, richtig, The National das so wollen. Schließlich scheint sich auf der Bühne so dermaßen viel angenehm warme Melancholie konzentriert zu haben, dass etwas heraus muss: Matt Berninger selbst ist das Überdruckventil, setzt zum Sprung an und findet sich plötzlich in der Menge wieder. Er steigt nicht nur mal eben von der Bühne um zwei Hände zu schütteln, nein, er rennt einmal um die gesamte Crowd, singt dabei schreiend weiter. Wenn auch denjenigen, die sich dazu erdreisten, während des Konzerts Bier zu holen, plötzlich dieser kreischende Mann mit Mikrofon über den Weg läuft, dann kann sich niemand mehr entziehen. Dann die Geräuschkulisse dazu: hysterisches, ungläubiges Kreischen. Nicht so wie das von 16-jährigen Groupies, eher so als habe man gerade das Feuer erfunden. Das Drücken der Aufnahmebuttons von gefühlt etwa hunderttausend Smartphones kann quasi gespürt werden; dieser Moment wird konserviert, und im Gegensatz zu einem Foto einer verschwommenen Band auf einer viel zu weit entfernten Bühne könnte das sogar wirklich was bringen. Bekommen da einfach Hipster Futter? Kurz: Nein. Denn das hier ist großes Kino, ein Konzert, auf dem alles gegeben wird. Matt Berninger wird diesen Abend mit einem ordentlichen Kater bezahlen, und er hat sein Publikum damit therapiert. Klingt pathetisch, ist aber so. Und wenn dann, zum Ende hin, nochmal St. Vincent auf der Bühne steht und mit Berninger im Duett singt, ist es passiert: The National, I don’t wanna get over you. Hier braucht man keine Couch, man braucht nur seinen Kopf, und dem geht es danach eindeutig besser als vorher.
(Carsten Brück)
Sie so:
Einlass 17 Uhr. Einlass 17 Uhr?! Äh, das ist Berlin nicht gewohnt. Die Kulisse der Zitadelle, die noch immer an sonstige Mittelalterspektakel erinnert, fordert für heutiges Indie-Fest halt ein paar Regeln: Fledermäuse brauchen irgendwie ihre Ruhe, deshalb ist ab 22 Uhr Zapfenstreich. Das typische Szenario – Einlass um sieben, trinken bis elf, voll sein zur Vorband und zum Hauptakt nach Hause – fällt also raus, schickt sich bei sophisticated Acts wie Obamas Lieblingsband aber eh nicht. Die falsche Konzertbesucher-Konditionierung lässt St. Vincent gegen 19.00 Uhr daher vor überschaubarem Publikum auftreten. Die Faustregel: Je später der Abend, desto voller die Herren sollte sich aber (zumindest für einen) später noch bewahrheiten.
Los geht es also mit St. Vincent aka Annie Clarke aka Personifikation der Gründe, weshalb ich niemals hätte aufhören sollte, Gitarre zu spielen. In der Mitte der Bühne ein dreistufiges rosafarbiges Podest, wie es sich für eine Diva gehört, an ihrer Seite ein Herr in Schwarz an den Keys und eine Frau in Schwarz an zweiter Gitarre. Madame Clarke versucht sich zur Freude der Kosmetikbranche an der Resozialisierung hellblauen Lidschattens und trägt dazu ein hautfarbenes Kleid, aus dessen Mitte massenhaft roter Tüll quillt. Ob sich damit zur Splatter-Fashion oder dazu positioniert wird, sein Innerstes nach Außen zu kehren, ist unklar und sei jedem selbst überlassen. Heute scheint an St. Vincent alles perfekt (inszeniert). Ihre präzise eingeritzten Laufmaschen kann ich ihr deshalb nicht abnehmen. Aber ich bewundere diese Frau. Einsfünfzig groß und vielleicht 50 kg schwer, mit einer wahnsinnig reinen, unscheinbaren Aura ist sie vielleicht die einzige Frau der Welt, die alle Poser locker auf der Gitarre abziehen, Reden vor den Vereinten Nationen überzeugend halten und gleichzeitig für Chanel modeln könnte. Außerdem hat sie mir mit dem Chorus von Digital Witness den perfekten ersten und einzigen Tweet ermöglicht. Die Drumherum-Show gestern allerdings wirkte seltsam affektiert und überflüssig. Und mir bleibt die Frage: War dieser ganze Aufzug – Marionetten-Optik und Gestik mit Struwwelpeterhaaren, Lo-Fi-Choreographie, die wie der verstört-steife Versuch wirkte, ungelebte Cheerleader-Träume nachzuholen – schon immer Teil von Annie Clarke? Ist die Musik Produkt der Kunstfigur St. Vincent? Oder die Kunstfigur erzwungenes Produkt der Musik Annie Clarkes?
Die anschließende Pause verpflichtet zur Fan-Observation. Wie immer wild durchmischt, sticht nur die Dame mit dem Husky-Fleece-Pulli und die Tatsache heraus, dass Mann nun Hare-Krishna-Undercut mit Men Bun trägt. Außerdem ist man wohl situiert: Alle haben bessere iPhones als ich – damit kann ich mir lästige Aufnahmen also sparen.
Als die Band plus Trompeten- und Posaunenunterstützung die Bühne betritt, scheint der winterliche Stock aus dem Arsch gelöst, der beim letzten Besuch der New Yorker in der Max-Schemling Halle Publikum und Band gleichermaßen anteilnahmslos-gleichgültig zurückließ. Die Atmosphären aus der Max-Schmeling-Halle und der Zitadelle lassen sich anhand Matt Berningers Getränkewahl vergleichen: Der bedrückend-dunkle Rotwein, den er im November noch Flaschenweise trank, weicht einem Havana-Club-Glas gefüllt mit spritzig-flüssig-goldenem Glück, um den Sommer zu begrüßen. Das, die Open-Air-Atmosphäre, klatschende Menschen und knutschende Pärchen lassen ziemlich schnell das Freiheitsgefühl einer Beck’s-Werbung entstehen.
Die Band haut außerdem ordentlich auf die Kacke. Berninger schreit sich Slayer-esk Herz und Lunge aus dem Leib, sodass mir fast das Handzeichen aus Zeige- und kleinem Finger rausgerutscht wäre, was laut Verhaltenskodex vermutlich seit 2005 auf der tabu ist.
Bei Berningers obligatorischem Sprung in die Menge und der Demonstration, wie lang ein Mikrokabel sein kann, treten die sonst so zurückhaltenden Shoegazer knapp eine Massenpanik los, um auch endlich mal Matt anzufassen. Mir schießen minimale Assoziationen an die Abschlussszene aus „Das Parfüm“ in den Kopf.
Als das Ende mit „Vanderlyle Crybaby Geeks“ akustisch eingeläutet wird, will ich nur rühr-/glückselig rufen: „Get outta here, The National! Ihr übertreibt!“.
Ich gucke mich um und schaue in ausschließlich grundzufriedene Gesichter, Münder, die im Chor die Wörter „All the very best of us, string ourselves up for love“ formen, die Geborgenheit ausstrahlen, als wären sie zurück in der Behaglichkeit von Muttis Gebärmutter.
Und das bringt mich zur Frage: Was bedeutet ein Konzert wie dieses? Bei The National eigentlich kein gemeinsames Erlebnis, sondern eine Rekapitulation.
Ein paar Stunden für dich mit der Band, die deine Emotionen so häufig besser hat ausdrücken können, als deine eigenen Möglichkeiten es erlaubten. Hier laufen alle Situationen, Emotionen, Gefühle zusammen, in denen du dich dafür entschieden hast, explizit ihre Musik aus dem Lautsprecher klingen zu lassen. Scott Devendorf sagte mir im Interview, dass er als Bassist gleichzeitig Zuschauer und Teil der Show sei. Unglaublich cheesy aber wahr ist, dass bei emotionaler Musik wie dieser jeder seinen eigenen Kampf kämpft. Im Taumel hochgekochter Gefühle ist gestern ein mini bitzelchen Magie aus dem Chor entstanden, der Matts authentischen Gesang mit den hundert Leuten um mich herum paarte, die die Geschichten genau so gut hätten erzählen können.
(Vera Jakubeit)
(Foto: Viktoria Conzelmann)
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