In der August 2003-Ausgabe von Andy Warhols „Interview“-Magazin sprach Chefredakteurin Ingrid Sischy mit Elton John über die große Nina Simone. Wie großartig sie gewesen sei. Welche Lücke ihr Tod zurück gelassen habe. Und dass wohl niemand sie je wird füllen können. Eine haben Mrs. Sischy und Sir John vergessen: Erykah Badu.
Zwei großartige Frauen mit großartigen Stimmen, unberechenbar und unverwechselbar, kompromisslos und wunderschön. Wie ihre große Vorgängerin ist auch Erykah getrieben von einem ständigen Streben nach Gerechtigkeit. Sie ist intelligent genug zu wissen, dass es eine Utopie bleiben wird, was sie einfordert. Aber ihre Wut ist so groß, dass sie nicht aufhören wird zu kämpfen. Wie Nina Simone ist auch Erykah Badu eine Diva der alten Schule, eine Königin, die sich zu inszenieren versteht und Widerspruch nicht duldet. Aber sie darf das. Denn sie hat sich nie verbiegen lassen von den angeblichen Gesetzen des Marktes und den falschen Erwartungen der Menschen. Vielmehr hat sie versucht, dem Spiel ihre eigenen Regeln zu geben. Als sie ihr epochales Debütalbum „Baduizm“ (1997) auf den Markt warf, sprach noch keiner von „Neo-Soul“ oder ähnlichem Hype-Unfug – Erykah Badu bekam trotzdem Kritikerlob in Kübeln, zwei Grammys und dreifach Platin. Noch im selben Jahr schoss sie ihr „Live“-Album nach, das wenig hatte von den üblichen Hit-Feuerwerken und dennoch sowohl Kritiker als auch Publikum hinriss. Mit ihrer zweiten Studio-LP, „Mama’s Gun“ (2000), setzte sie sich souverän über die Erwartungen der dürstenden Gemeinde hinweg. Und auch mit ihrem neuen Werk „World Wide Underground“, von ihr selbst in gänzlich unangebrachter Bescheidenheit als „EP“ bezeichnet, dehnt Erykah den Rahmen ihres Genres mindestens so sehr wie ihr Boy Common mit seinem letzten Album „Electric Circus“.
Wie sie bei „I Want You“ – einem Song getrieben von der unermesslichen Energie des Verliebtseins – nach dem Herzschlag-Intro ohne jede Schwere zwischen Deep House-Beats, klassischem Philly-Soul und einem Dancehall-mäßigen Riddim wechselt. Wie sie nicht viel mehr braucht als drei Wörter, um dieses Gefühl aus den Boxen tropfen zu lassen, das alle kennen und so wenige zum Ausdruck bringen können. Wie sie als B-Girl auf dem Bonustrack „Love Of My Life (An Ode To Hip Hop)“ (bekannt vom formidablen „Brown Sugar“-Soundtrack) über, für und mit ihrer großen Liebe singt. Wie sie nicht selten die 8-Minuten-Grenze überschreitet, Song-Strukturen völlig auflöst und in ein Meer aus Sounds und Gefühlen aufgehen lässt. Oder wie sie mit „Woo“ einfach über ihren Klassiker „Sometimes“ vibet, begleitet von Handclaps und der Liebe des Publikums. All das ist immer Soul, aber nur als Vibe, als Idee, als Klammer für die unzähligen Ausdrucksformen einer Künstlerin, die längst in ihrer eigenen Liga spielt… wenn sie nicht sogar ihren eigenen Sport betreibt.
„World Wide Underground“ ist nicht einfach nur Erykah Badu´s bislang beste Platte – es ist ein Geniestreich. Ein Stück Musik, das minutiös durchkonzipiert wirkt, aber dennoch rau, direkt und extrem wirklich. Vielfältig, aber getragen von einem einheitlichen Vibe, der auch in der so oft beschworenen „Neo-Soul-Szene“ selten geworden ist. Aus Erykah spricht 2003 zunächst einmal der Frust über das, was sie umgibt, das unbedingte Verlangen auszubrechen. Auszubrechen aus der normierten Welt einer Industrie, die in ihren Augen nicht nur die falschen beschenkt, sondern Kreativität unterdrückt, Liebe zerstört und Schönheit solange in mundgerechte Happen hackt, bis sie im düsteren Licht von Soundscan-Zahlen und TV-Rotationen unkenntlich geworden ist. Sie lebt nicht mehr vom Reiz der Neuheit. Es gibt keinen offensichtlichen Hit wie „You Got Me“, Erykah´s unsterbliche, Grammy-prämierte Kollabo mit ihren stetigen Förderern und Inspiratoren von der Legendary Roots Crew. „World Wide Underground“ ist einfach nur ein wunderbares Album, das sehr oft beängstigend nahe an der Perfektion tanzt.
Überhaupt „tanzen“, ein gutes Stichwort: Mit der ersten Single „Danger“ hat Erykah Badu den bislang funktionalsten Clubhit ihrer Karriere geliefert. Was nicht heißen soll, dass hier Clonen im Beat Club oder Bouncen nach Zahlen betrieben wird. Im Gegenteil: „Danger“ sprüht vor Ideen, vor kleinen Details, die den majestätischen Groove unterstützen und auf den Floor treiben, ohne einem Knoten ins Tanzbein zu treiben. Und der Text, Erykah´s ganz eigene Version von „hood tales“ und „gun lyrics“, steht ohnehin über allem.
Hier tritt auch das neu formierte Produktionsteam „Freakquency“ in voller Besetzung in Aktion: Rashad „Ringo“ Smith, James Poyser, R.C. Williams und: Erykah Badu. In Zeiten, da sich mittelmäßig begabte, austauschbare Chanteusen ihre Persönlichkeit von erfahrenen Regelschiebern auf den Leib schneidern lassen (die im günstigsten Fall Williams, Hugo oder Mosley heißen), ist Erykah eine echte Ausnahme mit nahezu protestantischer Arbeitsethik. Sie will, sie muss an jedem Schritt beteiligt sein. Und das ist verdammt noch mal gut so.
Das hört man auch an den HipHop-Einflüssen, die „World Wide Underground“ unübersehbar durchziehen: Die Scratches und der Freestyle-Vibe auf „Woo“. Die offensichtlichen Zitate auf „Love Of My Life Worldwide“ mit Queen Latifah, Angie Stone und Bahamadia. Die Gastreime von Stic Man und M-1 aka dead prez, gerade erst mit der seltenen Wertung von 4,5 Mikrophonen in der noch immer einflussreichsten HipHop-Zeitschrift „The Source“ geadelt und allerorten als die Anführer einer neuen Consciousness-Renaissance im Rap-Game gehandelt. Erykah Badu hat sich nie gefürchtet, ihre Einflüsse, ihre Geschichte in ihre Musik einzubringen. Auch das eint sie mit Nina Simone. Ingrid Sischy und Elton John können beruhigt sein: Nina Simones Erbe wird ganz hervorragend verwaltet. Worldwide.
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