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Exile on Gestern

Re-Releases, Re-Issues, Re-Masters: die Musikindustrie lebt noch ein bisschen länger – von der eigenen Vergangenheit


Ziemlich abgefuckt: Mick Jagger und Keith Richards bei den Sessions zu “Exile On Main Street” (Bild: Dominique Tarl)

Man muss das erstmal schaffen, mit einem knapp vierzig Jahre alten Album an die Nummer eins der britischen Charts zu gelangen, wohlgemerkt, ohne gestorben zu sein. Die Rolling Stones haben das eben hinbekommen mit der neuen Version ihres legendären „Exile On Main Street“. 1972 wurde das ursprünglich veröffentlicht, die Aufnahmesessions in England, Frankreich und den USA sind ein legendäres Beispiel für ausufernde Drogenexzesse, zerfahrene Bandbeziehungen und am Abgrund irrlichternden Rockgrößenwahn. Entstanden ist – so der allgemeine Konsens – eines der wichtigsten Alben der Rockära.

Lange Zeit lebte die Musikindustrie bestens davon, ihren Backkatalog einfach ein zweites Mal auf einem anderen Trägermedium zu verkaufen. Es war, genau genommen, allerdings auch der Anfang von ihrem Ende, waren doch die so erzielten Gewinnmargen Anlass für das Interesse von Finanzinvestoren; mit der Folge der Verwandlung von Musiklabels in Kapitalgesellschaften und ihrem Zwang zu Quartalsberichten und Gewinnmaximierung. Heute steht die Musikindustrie bekanntermaßen schlecht da, Nachwuchs, der bereit ist, für Musik zu bezahlen ist rar. Da besinnt man sich gern auf eine immer noch treue Kundschaft, die wenig Affinität zu illegalen Tauschbörsen hat und sich ein drittes „Exile On Main Street“ obendrein auch leisten kann. Diesmal eben remastered. Und mit ein paar bisher unbekannten Songs aufgemotzt.


Sehr deluxe: “Exile On Main Street” 38 Jahre später

Die Schwemme an „Re-Releases“ ist seit etlichen Jahren kaum noch zu überblicken, einschlägige Musikmagazine klassischeren Zuschnitts räumen ihnen inzwischen nahezu ebenso viel Aufmerksamkeit ein, wie echten Neuerscheinungen. Die Vorgehensweise ist im Wesentlichen standardisiert: Versprochen sind meist ein umfangreicheres Booklet mit Linernotes zur Bedeutung des Werks, ein paar Bonussongs und ein besserer Sound. Das ist dann mal mehr, mal weniger gut gelungen oder relevant, mit mal mehr, mal weniger Liebe und Sachkenntnis zusammengestellt und ermöglicht im besten Fall tatsächlich einen vertieften Einblick ins Frühwerk eines Künstlers oder die Entdeckung vergriffener oder verkannter Perlen. Es gehört allerdings ein gerüttelt Maß an Fantum dazu, sich dafür zu interessieren oder gar Geld auszugeben. Richtig interessant – aus Verkäufersicht – wird es, wenn die Fangemeinde weltweit und der betreffende Künstler anerkanntes Kulturgut quer durch alle Schichten ist. Dann lassen sich Neuauflagen sogar als musikhistorisch und weltweit wahrgenommenes Ereignis stilisieren.

Die Neuauflage aller regulären Beatles-Alben im letzten Jahr war so ein Ereignis: abgemischt, wie es die Beatles damals gemacht, wenn sie denn gekonnt hätten und somit ein gänzlich neues Beatles-Hörerlebnis – so zumindest das Verkaufsargument der Plattenfirma, das sich auf praktisch alle Re-Bearbeitungen anwenden lässt. Und ein Ansatz, der die Geister scheidet, löst er ein musikalisches Werk zugunsten verbesserter aktueller Konsumierbarkeit doch aus dem technologischen und soundhistorischen Ursprungskontext. Aber es bietet sich so auch die bequeme Gelegenheit, fernab der zunehmend unübersichtlichen musikalischen Entwicklung an einer Art Schein-Innovation teilzuhaben, die sich nur einen Hauch vom Immerbekannten wegbewegt. Weltweit millionenfach wurden die neuen Beatles-Versionen abgesetzt, fest eingeplant war das ohnehin von der praktisch pleiten Plattenfirma EMI, die so wenigstens kurzfristig ein wenig Licht am sonst eher düsteren Horizont sehen konnte.

Punktgenauer Vorgeschmack des Gestern: “Plundered My Soul”

Geradezu generalstabsmäßig wurde jetzt die „Exile On Main Street“-Neuauflage inszeniert. In Cannes präsentierte Mick Jagger den niegelnagelneuen Dokumentarfilm über die Aufnahmen, eine Single mit einem bisher unveröffentlichten Song wurde punktgenau zum terminlich perfekt passenden Record Store Day veröffentlicht und überhaupt stand die Band auffallend bereitwillig hinter allen Promotion-Aktivitäten, die wiederum breiten Medien-Widerhall fanden. So schafft man eben eine Nummer eins. Mit einem Album, das jeder, der sich für Rockmusik interessiert, eigentlich sowieso schon zu Hause haben müsste. Gewissermaßen ein (letzter) Sieg des herkömmlichen Musikgeschäfts über die Gegenwart.

Augsburg

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