Sie wollen “nicht neo, nicht post sein”, sondern “genau jetzt” stattfinden und es sei ihnen gegönnt. Am Ende ist “Is This What You Call A Fronterlebnis?”, die Debüt-EP der Münsteranischen Band Ghost Of Tom Joad, aber natürlich trotzdem ein Blick auf Post-Punk mit Melody-Punk-Aspekten – aus 20 Jahren Entfernung und deutscher Perspektive. Und mit einer schönen Geschichte…
Natürlich kennen wir alle dieses Gefühl, in etwas oder jemanden verliebt zu sein. Diese unschätzbar wertvollen Stunden, Tage, Wochen, in denen man ausnahmsweise einmal das Gefühl hat, in jeder Sekunde das absolut Richtige zu tun. Und zwar nicht, weil das objektiv messbar so ist – Objektivität ist sowieso eine ewige Illusion -, sondern weil man sich dessen, was man tut, einfach so sicher ist. Jens Mehring (Bass, Gesang), Henrik Roger (Gesang Gitarre) und Schlagzeuger Christoph Schneider waren sich vermutlich noch nie so sicher wie am Abend des 15. Februar 2006.
Generell gilt: Die folgenden Ereignisse, also die Gründungsmythologie der Musikgruppe Ghost Of Tom Joad, mag man kaum glauben, erzählt sie aber trotzdem gerne weiter – einfach weil sie so eine schöne Geschichte hergeben. In auftretenden Rollen: Ein Ende, in dem ein neuer Anfang liegt, der wichtigste US-Songschreiber der letzten 30 Jahre, einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die endgültige Erfüllung einer großen Freundschaft und schließlich und endlich die schwedische Band Logh in einer unbedeutenden Nebenrolle.
Aber der Reihe nach: Es begab sich an jenem Abend, also dem 15. Februar 2006, dass die langjährigen Freunde Jens, Henrik und Christoph sich auf ein Konzert der erwähnten Band Logh begaben. Noch bevor die eigentlichen Protagonisten jedoch die Bühne betreten sollten, erklang über die Lautsprecheranlage der Halle ein Lied. Ein Lied, das keinem unserer drei Freunde bislang bekannt war, das sie aber trotzdem einvernehmlich zu einem der besten erklärten, das sie seit längerer Zeit gehört hatten. So gut gefiel ihnen der Song, dass sich danach kaum noch einer von ihnen an das spätere Konzert, den eigentlichen Grund ihres Besuchs, erinnern konnte. Nur eines wussten sie noch: Dass das Licht und irgendwie alles an diesem Abend intensiver war als sonst. Als würde das Schicksal eingreifen.
Die Jugendfreunde, die auch schon vorher in verschiedenen Formationen teilweise zusammen lärmten, beschlossen an jenem Abend, gemeinsam eine Band zu gründen. Und wahrscheinlich waren sie an damals auch sicher, mit dieser Band dann die Welt verändern zu können.
Am nächsten Tag, inzwischen hatten die drei herausgefunden, dass es sich bei dem ominösen Lied um “The Ghost Of Tom Joad” aus Bruce Springsteens 95er Album gleichen Namens handelte, jedenfalls: Am nächsten Tag beendete Henriks Freundin auf relativ unsanfte Art die gemeinsame Beziehung. Das war zwar sicher nicht so schön für Henrik, hatte aber einen Vorteil: Sollten einem der Drei inzwischen leise Zweifel an der Schicksalhaftigkeit des vorhergegangenen Abends gekommen sein – man kennt das ja, im Licht des neuen Tages war’s dann doch wieder nur der Alkohol: spätestens hier war der fehlende Wink von oben. Der fehlende Beweis. Der Weg war nun endgültig frei für Ghost Of Tom Joad. Denn wie hätten sie sich bitteschön sonst nennen sollen, als nach jenem Song?
Nun muss man wissen, dass Tom Joad in John Steinbecks Roman “Die Früchte Des Zorns” der Sohn einer im kalifornischen Exil auf Glück und eine goldene Zukunft hoffenden Farmerfamilie ist, die stattdessen Leid und Ausbeutung erfährt. Man möchte der Band gleichen Namens wünschen, dass ihrem ureigenen Traum von einer goldenen Zukunft mehr Glück beschieden ist. Die Wut, die Tom Joad im Roman angesichts der hoffnungslosen Lage seiner Familie später sogar morden lässt, die er jedoch auch produktiv nutzen kann, ist den treibenden, melodieseligen und Punk-infizierten Attacken auf “Is This What You Call A Fronterlebnis?” jedenfalls immanent. Auch deshalb ist dieser Name ein guter Name. Ein guter Name für eine gute Band.
Man könnte jetzt noch schreiben, dass GOTJ die Einflüsse ihrer Melody-Punk-behafteten Jugend mit vornehmlich britischem Post-Punk der frühen Achtzigerjahre kreuzen. Und natürlich, dass sie mit den nach einer Figur aus Mark Twains “Tom Sawyer” benannten Muff Potter nicht nur ein Faible für unterprivilegierte Romanhelden, sondern auch die münsteraner Herkunft teilen. Wenn man schon mal dabei ist, dürfte außerdem nicht unerwähnt bleiben, dass Muff Potter-Gitarrist Dennis Scheider, der nach eigenem Bekunden größte Fan der Band, nicht nur vorliegende EP produziert hat, sondern sie ebenso wie das im Oktober erscheinende Langspielerdebüt “No Sleep Until Ostkreuz” auch auf seinem Label ‘Richard Mohlmann’-Records veröffentlicht. Überhaupt: Münster. Es ist ja eine gültige Tradition des Rock’n’Roll, dass die beste Musik meist aus der Provinz kommt und nicht aus den großen Städten. Ja, man könnte so weiter machen und sogar noch die H-Blockx erwähnen. Aber da ist man dann schnell wieder bei einer normalen Bandbiographie und die sind ja meistens langweilig. Und deshalb ist hier nun das Ende der einen und der Anfang einer anderen Geschichte: Ghost Of Tom Joad beginnt “genau: jetzt”. Also doch.
Text: Torsten Groß
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