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Als am Freitag Mittag ein blauer Seat vor den Redaktionsräumen hält, weiß sich noch keiner die Dimension des Geduldsfadens auszumalen, den der heutige Tag bedarf. Beherzt wird in die Promokiste gegriffen, um der musikalischen Untermalung durch Radio Energy zu entgehen und ein letztes Mal in die Runde gefragt, ob irgendjemand Schmerztabletten im Gepäck hätte. Irgendjemand hat. Als wir die Berliner Stadtgrenze hinter uns lassen, setzt nach und nach die Festivaleuphorie ein – und mit ihr der Hunger. Erster Meilenstein der Hurricane-Odyssee: McDonalds. Denn das Festivalessen ist teuer. McDonalds Gott sei Dank nicht. Sagts und schluckt den bitteren Beigeschmack der Ironie. Burger, Eis, Kippe und weiter gehts.
Nach einer Weile bricht sich die Erkenntnis bahn, dass der Griff in die Promokiste doch weniger beherzt ausgefallen ist als erhofft und die blind getroffene Auswahl zudem ziemlich divergent. “Ich will Digitalism hören!” – “Haben wir nicht irgendwas mit Gitarren?” – es ist die Bürde eines Kleintransporters voller Musiknazis. Wir hören Digitalisms DJ-Kicks-Mix. Und lassen uns von der brachialen gute Laune-Offensive mitreißen. Bis sich der erste iPhone-Akku dem Zustand völliger Entladung nähert. “Gibts hier drinnen eine Steckdose?” Die Frage wird totgeschwiegen. Kurz vor Hamburg bremst uns eine Kolonne blinkender Rücklichter – Stau.
Ein erster besorgter Blick auf die Uhrzeit. “Schaffen wir es noch zu My Morning Jacket?” – “Bestimmt nur eine Baustelle, mach dir mal keine Gedanken.” Nach einer guten Stunde zeigt sich: die Skepsis war gerechtfertigt. Wir bewegen uns in halber Schrittgeschwindigkeit vorwärts und als wir schließlich Hamburg vorbeiziehen sehen, weiß keiner die Ursache des Ärgernisses zu benennen. Wahrscheinlich eine Baustelle. Noch 85 Kilometer, sagt die Papier gewordene Fassung von Google Maps. “Gibts hier eigentlich EINEN ordentlichen Radiosender?” Gibt es nicht, aber die verzweifelte Suche danach vertreibt die Zeit bis Ausfahrt 50, an deren Beschilderung – Überraschung – keiner der Namen steht, die laut Karte dort hätten stehen sollen. “Warum nehmen wir eigentlich nicht das eingebaute Navi?” Gute Frage. Gesagt, getan und das zeigt an: noch 85 Kilometer. In die entgegengesetzte Richtung. My Morning Jacket zu sehen wird knapp. Sie haben soeben ihr Set begonnen. Zwanzig Kilometer mit 160km/h, dann Stau. Wenigstens das Navigationssystem hat den Humor noch nicht begraben: “Demnächst rechts abbiegen” informiert uns Fräulein Alhambra ohne einen Anflug von Emotion – oder Präzision.
Nur kurz gesehen, aber dafür umso intensiver: The Mars Volta auf der Green Stage.
Wir sagen unser erstes Interview ab. My Morning Jacket spielen derweil wahrscheinlich das Konzert ihres Lebens. Dennoch, in absehbarer Zeit könnten wir unsere Pension erreichen, von der es angeblich nur ein Katzensprung zum Festivalgelände ist. The Mars Volta werden als neues Ziel angepeilt. Umso kleiner die umliegenden Dörfer zu werden scheinen, umso näher kommen wir unserem Bestimmungsort. Vorbei an Fallingbostel, vorbei an Bockel und rein nach Rotenburg (Wümme). “Sie haben ihr Ziel erreicht”. Hier wächst der Pfeffer. Aber die Pension ist idyllisch und Karin eine Seele von Inhaberin. Wir entspannen noch zwanzig Minuten im weitläufigen Garten und begeben uns dann voller Vorfreude auf irrwitziges Gitarrengegniedel Marke Rodíguez-López zurück zum Auto, sagen Madame Alhambra, sie möge uns bitte nach Scheeßel geleiten. Allgemeine Verwirrung macht sich breit, als die Distanz des Katzensprungs auf 30 Kilometer taxiert wird. “Nicht im Ernst, oder?” Im Ernst. Raus aus Rotenburg (Wümme), vorbei an Hassdorf und Waffensen, dann rein nach Scheeßel.
Funktioniert im kleinen Club, aber auch auf der großen Bühne: The XX.
Wir brauchen noch unsere Pressebändchen und einen Carpass. Ersteres geht – abgesehen von einem vergessenen Personalausweis – fast problemlos über die Bühne. Carpässe gibt es allerdings nur noch in Westervesede. “Wo?” In Westervesede. Nach weiteren 10 Kilometern teilt uns einer der dortigen Ordner mit, Carpässe habe er nicht und überhaupt müssten wir umdrehen, da die hiesige Straße zum Gelände gesperrt wäre. Kurzer Wutanfall, The Mars Volta haben inzwischen ihr Set begonnen. Wir fahren wieder zurück und teilen den Damen am Presse-Einlass mit, dass wir heute um 22:30 Uhr gern The Cure sehen würden, dafür aber innerhalb der nächsten drei Stunden einen Carpass benötigen würden. Hektisch wird telefoniert. Es gibt keine Carpässe mehr.
Wir werden mit der ausgedruckten Mail und dem Hinweis “erklärt es den Ordnern, das kriegen wir schon hin” zum Gelände geschickt. Dessen Eingang, wie sich herausstellt, in Westervesede ist. Noch einmal 10 Kilometer gefahren, dem Einsatzleiter die Situation geschildert, nach einigem Stirnrunzeln abgenickt bekommen und – da VIP-Einfahrt gesperrt – nun samt siebensitzigem Seat quer über das Zeltplatzgelände, das von Abermillionen Festival- und Trinkwütigen beherrscht wird, die uns, ausgelassen feiernd, kurzerhand ignorieren.
Die Schminke saß wie eh und je – das Publikum zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Legenden eben!
Nach einer halben Stunde Fahrakrobatik stehen wir letztlich doch auf dem Parkplatz vor dem Gelände – müde, gereizt und ohne Bier. Wir schleppen uns noch zur Green Stage und sehen die letzten Minuten Volta. Die haben es allerdings – wie erwartet – in sich. Wilde Gitarren- und Schlagzeuggewitter gepaart mit Cedrics Gesangsauswüchsen brechen über eine noch überschaubare Menge an Zuschauern herein, die sie jedoch dankend und headbangend aufnimmt. Auf zur Jack Daniels-Lounge, das dritte Bändchen holen und endlich den langersehnten ersten Drink nehmen. Wir bleiben für den Rest des Abends grün.
The xx großartig, wenn auch wenig bühnenpräsent. Jamie schaut bisweilen stoisch auf sein Drumpad, als würde er es mit der Macht seiner Gedanken steuern. Das übergroße Plexiglas-X beeindruckt. Mit dem dritten Jackie-Cola weicht die Wut über einen verpatzten Tag nach und nach der anfänglichen Euphorie. Eine halbe Stunde noch bis The Cure den Abend der Green Stage ausklingen lassen. Es ist schlichtweg eindrucksvoll, welche Menschenmassen sich ihren Weg zu Robert Smith und seiner, nach 36 Jahren Bandgeschichte noch immer perfekt sitzenden, Frisur bahnen. Betroffenes Schweigen, als das Konzert beginnt. Da steht doch tatsächlich ein Stück Musikgeschichte in greifbarer Nähe. Sie spielen “Friday I‘m In Love”. Umso schöner, da Smith den Song zuvor jahrelang in die hinterste Schublade der Live-Setlist verbannt hatte. Ein magischer Moment. Das Konzert zieht wie ein Kurzfilm am geistigen Auge vorbei.
The Stone Roses. Für Newbies die Entdeckung des Festivals, für Fans eine Enttäuschung. Bei der visuellen Untermalung gab es jedoch keine zwei Meinungen: großartig.
Wir trinken noch ein Bier, vergessen dabei, ein Auge auf den Timetable zu werfen. Irgendwann tun wir es doch. Verdammt, Stone Roses! Wir rennen zur Blue Stage. Das Konzert ist bereits in vollem Gange und die Lightshow atemberaubend. Unter all der glitzernden Kaleidoskop-Pracht wirken Ian Brown und Co. fast ein wenig, wie die Opfer des eigenen musikhistorischen Schattenwurfs. Kaum jemand lamentiert so wundervoll monoton, auch ein Liam Gallagher nicht. Schließlich neigt sich der Abend gen Ende. Noch ein paar weitere Bier und dann die Erkenntnis: “Na wenigstens sind wir heute noch angekommen.”
(Fotos: Robert Henschel / Sebastian Weiß)
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