Samstag

Der Samstagmorgen beginnt – soweit so vorhersehbar – leicht bis mittelschwer verkatert. Die vergangene Nacht hat an der Substanz gezehrt – oder sie im Bier ertränkt. Dennoch, nichts was ein ausgiebiges Frühstück nicht zu beheben wüsste. Und Karin versteht es vorzüglich, ihren Gästen ein Lächeln ins kopfschmerzverzerrte Gesicht zu zaubern: von O-Saft bis gekochtem Ei, die Tafel könnte kaum reichlicher gedeckt sein. Wir fühlen uns angesichts derlei spätrömischer Dekadenz ein bisschen beschämt, essen schnell, aber viel und begeben uns pflichtbewusst mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Festivalgelände, um pünktlich zu Little Dragon zu erscheinen. Das Quartett um Sängerin Yukimi Nagano spielt nicht nur Songs aus ihrem letzten Album “Ritual Union“, sondern weiß die Menge auch mit einer gehörigen Portion Wahnsinn zum Tanzen zu zwingen. Was auf Platte funktioniert, gerät live zum Erlebnis. Eine fantastische Band mit einer ungeheuren Energie. 


Ein paar Slots zu früh, leider. Dafür wussten die Schweden von Little Dragon auf der Red Stage die Crowd mit allerlei Beats und Fantasie zum Tanzen zu bewegen. 

Auf dem Weg zu GusGus, die im Hurricane-eigenen “Electro”-Zelt, der White Stage, spielen, versacken wir kurz bei Jesse Hughes und seinen Eagles Of Death Metal. Der ist sichtlich guter Dinge und erfreut sich schelmisch am Choral der weiblichen Zuschauer, bevor er das Publikum mit seiner verschrobenen Mischung aus Glam- und Stoner Rock gleichermaßen zum Tanzen und Kopfnicken animiert. Im Inneren des Zelts bietet sich ein skurriles Bild: ein älterer Herr tanzt ausgelassen mit geschlossenen Augen neben einer gigantischen Banane. Überhaupt scheint sich das Hurricane mehr und mehr zum mittsommerlichen Faschingsersatz zu mausern. Islands Aushängeschild liefert derweil eine nicht minder beachtliche Tanzperformance ab, die von der eleganten nordischen Unterkühltheit eines “Arabian Horse” kaum Spuren hinterlässt. Die Menge suhlt sich im Bass. Zwei verzauberte junge Herren in der ersten Reihe schreien Urður Hákonardóttir lauthals ihre Liebe entgegen. Für uns, nach The Cure und Stone Roses am vergangenen Abend, ein weiteres Highlight.


Electro-House mit poppiger Note, oder andersherum? Egal, die Isländer von GusGus auf der White Stage. 

Wir verlieren keine Zeit und begeben uns im Laufschritt in Richtung Blue Stage, atmen unterwegs noch ein Kilo des aufgewirbelten Staubs ein und stehen kurze Zeit später hustend vor Thees Uhlmann, der uns mit überquellender – und im Kontext von Bushido und Konsorten vielleicht auch ein wenig gerechtfertigter – Liebe zu Casper und den üblich amüsanten Anekdoten begeistert. Die Meute ist ähnlich textsicher wie bei einem Tomte-Konzert – grölt, knutscht, wirft Konfetti, kurz: zeigt Thees ihre ganze Liebe. Der gibt sich zum Schluss weltmännisch und verabschiedet sich mit einem “Peace Out”. Wir verabschieden uns indes auf einen Abstecher zur Rolling Stone Lounge, denn es ist bereits halb sieben – Zeit für ein Bier. Im Hintergrund machen Madsen einen auf Thirty Seconds To Mars. Mit Wolfmother im Geiste, noch einmal kurz zur Blue Stage geeilt, um einen Blick auf die elfenhaft tanzende Florence Welch zu werfen, bevor sie zurück ins Nimmerland fliegt.


Keine Diva, aber dafür eine elfengleiche Gestalt, die es versteht eine komplette Bühne auszufüllen: Florence & The Machine auf der Blue Stage. 

Währenddessen meißelt Andrew Stockdale Gitarrenriffs in die Gehörgänge eines zugeneigten Publikums. Der Wermutstropfen der neuen Besetzung wiegt angesichts der eindrucksvollen Live-Energie nur gering. Auch die alten Mitkreisch-Hymnen von Wolfmother wie “Woman”, “White Unicorn” oder “Joker And The Thief” funktionieren im Quartett makellos. Kurze Verschnaufpause, dann wieder zurück zur Blue Stage. Dort spielt bereits Noel Gallagher zusammen mit seinen High Flying Birds. Gut aufgelegt unterhält er sich mit der ersten Publikumsreihe, gibt einen Großteil der Songs vom neuen Album zum Besten. Ab und an findet eine alte Oasis-Nummer ihren Weg in die Setlist, das wunderbare “Little By Little” vom vielfach unterschätzten “Heathen Chemistry” zum Beispiel. Er verabschiedet sich galant und stimmt “Don‘t Look Back In Anger” an. Eigentlich hätte es keines Mikrofons mehr bedurft, die Menge johlt, singt bereitwillig jede Zeile mit, manch einer weint – eine Hymne der Herzen.

Sally kann warten – wir freuen uns über einen gut gelaunten Noel Gallagher.

Wir begeben uns ein paar Reihen weiter nach vorn, denn als nächstes stehen Mumford & Sons auf dem Programm. Die eröffnen mit “Sigh No More”, und lassen gleich im Anschluss “Little Lion Man”, einen ihrer Überhits, vom Stapel. Die erste Reihe besteht ausschließlich aus Frauen, die mit geschlossenen Augen oder verzücktem Lächeln, die Hände reckend, mitsingen. Ein schöner Anblick. Marcus Mumford sagt, er habe sich die Hand gebrochen, könne also nicht Gitarre spielen und stellt Harry Cargill vor. Der ist mehr als lediglich guter Ersatz.

Es ist ein insgesamt recht ruhiges Set, in das sich einige der neuen Songs jedoch wunderbar integrieren. Im Anschluss, radikales Kontrastprogram: Justice. Die spielen sich hinter ihrem raumschiffgroßen Mischpult von Rockstarpose zu Rockstarpose. Die Maschinerie funktioniert wie frisch geölt, gesamplete Gitarrenriffs mischen sich mit wummerden Beats – Rave-Stimmung, die durch eine beeindruckende Lightshow, samt im Takt flackernder Marshall-Boxen und obligatorisch leuchtendem Kreuz, immer wieder für Überraschungen sorgt. Dennoch, im Abgang wirkt das Ganze stark routiniert. Es fehlt nicht nur der Biss, sondern auch ein wenig die Spitzen im Set der Franzosen. Aber vielleicht sind das auch nur unsere müden Augen und Ohren. Etwas abgehalftert lassen wir den Abend mit ein paar Bier im Garten ausklingen.


Wie bei The XX stellten auch Mumford & Sons neues Material vor – klingt nach einem erfolgreichen Zweitwerk! Frontmann Marcus spielt indes mit gebrochener Hand, seiner Stimme tat das – Achtung – keinen Abbruch. 



Alles wie auf Platte, leider. Die Franzosen wissen einen auf dicke Hose zu machen, das Soundsystem blieb insgesamt zu wenig druckvoll, eher mittelmäßig: Justice und ihr blasphemisches Raumschiff. 

Sonntag

Wir erwachen bei Regen. Endlich. Es wäre ja nicht auszudenken gewesen, ein Hurricane Festival ohne Regentag über uns ergehen zu lassen. Da wir heute bereits den Rückweg antreten müssen, bleibt kaum Zeit, um uns noch einige der großartigen Sonntagsbands zu Gemüte zu führen. Ein letztes mal vorbei an Hassdorf und kurz aufs Gelände, um Twin Shadow zu sehen. Um diese Uhrzeit ist noch alles wie leergefegt. Einsam stehen die Wellenbrecher vor der Blue Stage im Regenguss. George Lewis Jr. und Band stört das nicht im Geringsten, sie sind über die Wetterfestigkeit ihres Publikums erfreut, das zwar nicht sonderlich zahlreich, aber guter Dinge, erschienen ist. “Ihr seht aus wie die Geister aus Pacman” sagt er und lacht angesichts der Meute bunter Regenponchos. Sehr sympathisch. Die Mischung aus R’n’B und New Wave passt dann auch erstaunlich gut zum Wetter – gedankenversunken wird getanzt und durch den aufgeweichten Boden gepatscht.

Wenig vom neuen Material, dafür mit einem Charme, der alle begeisterte: Twin Shadow auf der Blue Stage. 

Bei einem wärmenden Kaffee sehen wir noch The Black Box Revelation auf der Green Stage, die dort ein wenig verloren wirken, aber – bedenkt man die frühe Stunde – schon anständig lärmen. Dann begeben wir uns zurück zum Auto, ein wenig betrübt darüber, Kurt Vile, M. Ward und vor allem New Order zu verpassen. Es war – um es im Soziolekt der neuen MTV-Generation auszudrücken – ein super sweet sixteen. Danke Hurricane, wir sehen uns im nächsten Jahr.

Text & Fotos: Robert Henschel / Sebastian Weiß

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