Das Internet, unendliche Weiten. Da kommt es schon mal vor, dass Bewundernswertes aus den Angeln gehoben wird und der Urheber keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf nehmen kann. Die Geschichte von iamamiwhoami ist die Geschichte einer Künstlerin, deren Kunst sich zu ihren Gunsten verselbstständigt hat.

(Fotos: Cooperative Music)

Zweieinhalb Jahre ist es her: Wie aus dem Nichts erschien auf YouTube ein mysteriöses Video namens “Prelude 699130082.451322-5.4.21.3.1.20.9.15.14.1.12” von einem noch mysteriöseren Interpreten namens iamamiwhoami. Ihm folgten zahlreiche weitere Clips, die endlose Landschaften, verschleierte Protagonisten und nebulöse Musik im Stil von Fever Ray, Zola Jesus und Konsorten präsentierten. Nicht nur die rätselhaften Kombinationen aus Buchstaben, Zahlen und Bildern innerhalb der Videos boten den idealen Nährboden für Hobby-Kryptologen – auch über die Identität des Interpreten wurde zunächst der Mantel des Schweigens gehüllt. Kein Wunder, dass sich die Mutmaßungen von Bloggern und Forenusern überschlugen. Handelt es sich um Björk? Liegt ja bei den ganzen abstrusen Symboliken nahe. Lady Gaga? Auch nicht abwegig, so extravagant wie sie sich immer gibt. Oder vielleicht doch Christina Aguilera? Die muss es sein. Ganz sicher!

Mittlerweile wurde das Geheimnis gelüftet. iamamiwhoami ist ein eigenständiges Projekt der Schwedin Jonna Lee. “Ich möchte aber nicht, dass solch großer Wert auf die Personen hinter der Musik Wert gelegt wird”, verriet uns die 30-jährige Musikerin im Interview. Natürlich ist es neben dem Hin und Her über die Identität auch wichtig, über die Essenz dieses Projekts gewahr zu werden. “Der Kern von allem ist die Musik, die ich zusammen mit dem Produzenten Claes Bjorklund erstellt habe. Mit der Zeit wollten wir die Songs auch visualisieren, um eine Einheit zwischen Audio und Video zu kreieren. Ich mag es, mich visuell auszudrücken. So kam dann auch eine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Robin Kempe-Bergman zustande. Die Lyrics wurden dann als Script für die Videos benutzt.” Und dann begann das Ganze langsam aber sicher zu wachsen. Die Geschichte von iamamiwhoami entwickelte sich kontinuierlich weiter und erntete mehr und mehr Aufmerksamkeit. Mittlerweile hat der offizielle Youtube-Kanal von iamamiwhoami 26 Videos und wurde über 17 Millionen mal angeklickt.

iamamiwhoami – “Prelude 699130082.451322-5.4.21.3.1.20.9.15.14.1.12”

Was war aber nun der Beweggrund für solch ein Projekt? Gewagt ist so etwas definitiv, schließlich hätte es in unserer kurzlebigen Zeit schnell wieder in der Versenkung verschwinden können. An erster Stelle stand zunächst die Selbstverwirklichung, erzählt Lee: “Größtenteils ging es erst einmal um das Suchen und Finden von Identität.” Durch das schlagartige Interesse an ihrem Werk wurde jedoch der Fokus verschoben. So drehe es sich mittlerweile mehr um die Entwicklung des Gesamtprojekts. Dieses befinde sich wie das gesamte Leben in einem ständigen Fluss. Ganz nach Heraklit: Alles fließt. Und da dieser Prozess eben nicht nur die Künstlerin selbst betrifft, wird auch das Publikum als Part des Projekts iamamiwhoami gesehen: “Ursprünglich hatte ich die Idee, etwas nur für mich zu erstellen, mich mittels Kunst auszudrücken, für kein bestimmtes Publikum. Doch im Laufe des Zeit kam es zu einer sehr nahen Begegnung mit dem Publikum, weil es sich direkt mit unserem Output auseinandersetzt. Mittlerweile kann iamamiwhoami als Form von Kommunikation verstanden werden.”

Kommunikation also, die eigentlich nicht geplant war, aber nun zwangsläufig vorherrscht. iamamiwhoami ist zu einer Schnittstelle mit der Außenwelt, mit anderen Individuen und letztendlich auch den Rezipienten geworden. Ein weiterer Prozess, der sich für Lee spätestens seit dem ersten öffentlichen Livegig auf dem Way Out West verselbstständigte. Ganz klar: Wer innerhalb kurzer Zeit auf solch gewaltigen Zuspruch stößt, möchte auch nicht für immer anonym bleiben. Auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt – die Kunst von iamamiwhoami gehört auf die Bühne.

“iamamiwhoami’s face is digitally distorted isn’t it?” – Rätselraten ist umso spannender, je mehr Leute darin involviert sind. Monatelang wurden Versuche aufgestellt, iamamiwhoami zu entmystifizieren – bis sie es schließlich selbst tat.

Trotz der immensen Resonanz steht iamamiwhoami dem Begriff des “viralen Marketings” nicht unbedingt positiv gegenüber. Schließlich war das große Buhei vorerst gar nicht im Sinne des Erfinders. Wenn keine PR gemacht wird und die Videos ohne Beschreibung hochgeladen werden, wird es den Zuschauern selbst überlassen, sich ein Bild zu machen. Lee erinnert sich: “Eine Zeit lang war niemand daran interessiert, meine Identität zu erfahren” – die Videos und Musik sprachen eine Sprache für sich. […] Den Term “viral” mag ich nicht wirklich, dass hat immer so etwas Marketing-mäßiges. Ich denke, dass das Internet die Möglichkeit bietet, einfach und schnell zu konsumieren. Dazu stellte ich mir die Frage: Was passiert, wenn du nur etwas zeigst – ohne darüber zu reden und ohne es einer Beschreibung zu unterwerfen?” Das Internet ist für Lee also ein ideales Werkzeug um sich auszudrücken und zu kommunizieren – aber wer weiß schon, was die Zukunft noch für Möglichkeiten offenbart. 

iamamiwhoami – “t”

Ungleich spannender ist jedoch die Frage, wie dieses Projekt vor 20 Jahren ausgesehen hätte. Wäre solch ein Konzept ohne die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten überhaupt realistisch gewesen? “Es hätte in dieser Form niemals existiert, weil das Internet ein Ort ohne wirkliche Grenzen ist, denen man zwangsläufig unterworfen ist. Hätten wir das 20 Jahre zeitiger gemacht, wären wir viel isolierter von der Außenwelt – die Interaktion wäre schwieriger möglich und irgendwann wäre der Prozess sicherlich von alleine eingefroren. Die permanente Kommunikation mit dem Publikum hält das ganze Projekt aufrecht.” 

Dieser Tage wurde der erste Langspieler von iamamiwhoami veröffentlicht. Bereits sein Name “kin”, also die nahe Verwandtschaft, verweist erneut auf die indirekte Teilnahme der Rezipienten. “kin” ist ein audiovisuelles Gesamtkonzept: Alle Songs haben einen direkten Bezug zueinander; zu der CD wird eine DVD mit dazugehörigen Videoclips geliefert. Eine 45-minütige Reise in den Kopf von Jonna Lee. Das ist nicht immer leicht verdaulich und zuweilen auch ziemlich befremdlich, aber gerade deswegen auch wieder spannend und mitreißend. Am besten funktioniert dieser Trip natürlich chronologisch und am Stück. Schade nur, dass das regelmäßige Veröffentlichen von Clips auf YouTube seit “kin” vorerst ein Ende gefunden hat – doch wer weiß, was gerade für neue Ideen im Kopf von Jonna Lee gesponnen werden.

Danilo Rößger

iamiwhoami – “kin” 

VÖ: 07.09.2012

Label: To whom it may concern.

Tracklist:

01. sever
02. drops
03. good worker
04. play
05. in due order
06. idle talk
07. rascal
08. kill
09. goods