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“Glaube ist ein Gift für den Menschen.” – IAMX im Interview

Chris Corner über sein Verhältnis zu Religion, eine Welt ohne Finanzen, die Vorteile von Ressourcen und die Verarbeitung seiner Vergangenheit.

Chris Corner ist der Kopf hinter dem Projekt IAMX. Seine Songs sind düster und elektronisch, die Texte geprägt von Humor und Zynismus, eine geheimnisumwitterte Mixtur aus Realität und Märchen. Mit seinem aktuellen Album “Volatile Times” war er erst vor wenigen Tagen auf Tour durch Deutschland unterwegs. Hinter Corners viertem Studioalbum verbirgt sich eine geheimnisumwitterte Reise und mit ihr die wahrscheinlich bisher erfolgreichste Suche nach sich selbst. Im motor.de Interview philosophiert Corner über Utopien, eine bessere Welt und eine Branche, zu der er nur sehr widerwillig gehört.

motor.de: Dein aktuelles Album klingt sehr geisterhaft. Welche Dämonen lasten auf dir?

Chris: Ich denke, wir alle haben Dämonen in uns. Meine Dämonen sind mit diesem Album gewachsen und gleichzeitig habe ich viel Ballast abgeworfen. Der Dämon der Welt und menschlicher Ansichten führt manchmal dazu, dass ich mich hin und wieder unwohl fühle, immer dann wenn ich mit Idiotie und Ignoranz konfrontiert bin. Ich will mich nicht nur auf die negativen Seiten der Menschlichkeit beziehen, auch wenn es sehr schwer ist, über diese hinweg zu sehen. Das sind hauptsächlich die Dämonen, die mich momentan umgeben und aggressiv werden lassen. Und manchmal auch traurig.

motor.de: Kommt daher auch dein Zynismus?

Chris: Ich habe das nicht geplant, das passierte einfach. Als ich das letzte Album gemacht habe, waren wir danach ein Jahr auf Tour. Ich war sehr müde von der Musik und habe beschlossen, meine Rekreation in Büchern, Wissenschaft und Filmen zu suchen. Und ich habe einfach viele Dinge gefunden, die ich in der Musik nicht wahrnehme. Menschen sagen bestimmte Sachen in der Wissenschaft, die es in der Musik nicht gibt. Da ist Christopher Hitchens [ein US-amerikanischer Autor, Publizist und Literaturkritiker; Anm. d. Red.], mit dem ich mich viel beschäftigt habe. Er hat sehr viele tiefgründige Dinge gesagt, in der Musik hört man das wenig. Ich weiß nicht warum. Meiner Meinung nach sollte das auch in der Musik stecken. Also habe ich immer mehr gelesen und mich von vielen Sachen inspirieren lassen, vielleicht wurde ich davon zu sehr beeinflusst. Aber es hat mich veranlasst, wieder zu schreiben. Es gab eine Zeit, in der ich mich sehr verloren fühlte und ich einfach nichts zu sagen hatte. Wahrscheinlich hat mich eben dieser Zynismus und das viele Nachdenken wieder kreativ werden lassen.

motor.de: Du hast Hitchens ja sogar einen Song gewidmet, bei dem du angeblich eine schwierige Zeit durchgemacht hast.

Chris: Der Grund dafür lag darin, dass ich mich mit wirklichen Sachen auseinander gesetzt habe. Mit Realität habe ich mich schon immer beschäftigt, aber ich glaube, diesmal konnte ich es richtig fühlen. Insbesondere bei “I Salute You, Christopher” hatte ich Probleme. Dort fand ich heraus, dass Hitchens an Krebs sterben wird. Daraufhin habe mich damit auseinandergesetzt, wie ich mich fühlen werde, wenn eine Seele wie die seine nicht mehr auf der Welt ist. Außerdem ist es seltsam für mich, den Namen Christopher zu singen – ich fühle mich sehr verbunden mit jenen Zeilen. Es war einfach die Zusammenkunft der vielen Emotionen, die ich vorher noch nie zu spüren bekam – die Rauheit und Realität des Lebens. Das war richtig harte Arbeit und ich werde das auch für eine Weile nicht mehr tun, da es mich kaputt macht. Aber es war sehr wichtig für mich.

motor.de: Fühlst du dich denn nach dem Fertigstellen des Albums besser?

Chris: Nein, nicht wirklich.

motor.de: Bist du denn näher an das X getreten, an dein Innerstes?

Chris: Vielleicht schon. Mal abgesehen davon, dass das Erstellen des Albums wie eine Therapie für mich selbst war, hat es mich auch in eine bestimmte Richtung gestoßen, und das wird mir, denke ich, auch helfen, mich in der Zukunft besser zurecht zu finden.

motor.de: Wie kommt es zu deiner kritischen Auseinandersetzung mit Religion?

Chris: Ich mag keine organisierte Religion. Wenn man es sich genauer ansieht, sind es viele verschiedene Lügen, die auf sehr alten Geschichten basieren. Geschichten, die von Menschen erzählt wurden, die nicht auf dem wissenschaftlichen Stand von heute waren. Und Menschen nehmen sich noch immer diese veralteten Gedanken als Lebensgrundlage. Und es hat sich niemals entwickelt, denn es besteht schon immer ein menschlicher Wunsch nach etwas Größerem. Ich denke einfach, dass man viel mehr von der Wissenschaft bekommen kann als von diesem Märchen, das alles für einen lösen kann. Besonders wenn das Märchen sagt, dass das Leben nach dem Tod beginnt, ist es eine sehr gefährliche Behauptung, die man einem Menschen erzählen kann. Vor allem dann, wenn sie Religion sehr ernst nehmen. Ich denke, in dieser Hinsicht ist Glaube ein Gift für den Menschen. Ich denke, da gibt es gesündere und produktiver Wege, wie die Menschheit mit sich zurecht kommen kann.

motor.de: Du bist fasziniert von Tom Cruise, der ja bekanntlich einen deutlich positiveren Blick auf Religion hat. Wie passt das dann zusammen?

Chris: Tom Cruise ist für mich wie eine Art Spiel. Ich bin interessiert an seinen Ideen, ich bin interessiert an ihm, weil er eine Art Probeexemplar eines psychotisch gelenkten Schauspielers ist. Ich respektiere ihn mit der Sicht auf seine Arbeit, aber ich bin kein Fan von Scientology, auch wenn sie mich schon oft versucht haben, von dieser Religion zu überzeugen, da ich Leute kenne, die daran glauben. Ich habe viele Mails bekommen, dass, sollte ich etwas in meinem Leben vermissen, ich mich gern an sie wenden könne. Scientology wendet sich ja vor allem an kreative Menschen, die meisten dieser Leute sind nicht religiös. Sie suchen nach etwas, wo sie Halt finden. Aber wenn es um Tom Cruise selbst geht, bin ich einfach fasziniert, da er ein verrücktes Muster eines Schauspielers ist.

motor.de: Es ist aber anscheinend nicht nur die Religion, die du kritisierst, sondern bei “Music People” auch die Musikbranche. Fühlst du dich denn nicht selbst als ein Teil davon?

Chris: Der Song ist eine Mixtur aus Zynismus und Humor. Der Humor ist ein bisschen versteckt, aber er ist da. Ich glaube, dass die Musikbranche am Ende nur aus Geld und Lügen besteht. Und ich finde einfach nicht, dass diese Einstellung zu einer künstlerischen Seele passt, das ist nicht wirklich gesund. Ich selber sehe mich nicht als einen großen Teil der Musikbranche. Ich höre keine Musik und mache keine großen Deals mit Plattenfirmen und so weiter. Ich gebe Interviews, mache meine Arbeit, aber das ist sehr interessant für mich. Mit Leuten zu sprechen ist etwas soziales, das mache ich gern. Aber ich möchte mich nicht in den Bereich der Plastik begeben oder eine Marionette sein. Ich denke, ich kann mich zurücklehen und diese Menschen beobachten und ich glaube auch, dass mir das erlaubt ist.

motor.de: Hast du dich während der Zeit der Sneaker Pimps zu plastisch oder gekünstelt gefühlt?

Chris: Ja, habe ich. Ich denke, das war auch der Grund, warum ich IAMX gegründet habe. Ich wollte fliehen. Alle Mitglieder der Sneaker Pimps wollten dem Druck der Medien und der Branche entfliehen, aber wir hatten alle unterschiedliche Vorstellungen und Ideen, daher war Iamx der einzige Weg, den ich hätte einschlagen können. Ich erinnere mich sehr gut an die Zeiten, in denen ich mich in einen Käfig gesperrt fühlte, man mich wie eine Marionette behandelte und Sachen über meinen Kopf hinweg entschied. Wenn du erfolgreich, sehr kreativ und dann Teil eines Hypes bist, dann hat die Industrie entschieden, wann veröffentlicht wird und wann und wie sie mit uns Geld machen kann. Sie warten so lange, bis du verhungerst, um dann mit dir Geld zu machen.

motor.de: Oft beschäftigst du dich mit dem Bild einer Flucht, etwa im Song “Bernadette”. Siehst du sie als eine wirkliche Person oder sogar als eine Art Ort an?

Chris: Das ist interessant, darüber nachzudenken. Es könnte beides sein, auch wenn der Song auf einer realen Person basiert. Dahinter steckt vor allem die Idee von Flucht und Geborgenheit, die diese Person repräsentiert. Der Song spielt mit Realität und Märchen, mit Fantasie. Eigentlich sollte es bloß ein einfaches Liebeslied werden, aber ich habe den Faden noch etwas weiter gesponnen.

IAMX – “Ghosts Of Utopia”


motor.de: Wenn du deine eigene Welt erschaffen könntest, wie würdest du sie in den Grundlagen kreieren?

Chris: Darüber könnten wir Stunden sprechen. Meine Utopie wäre, dass die Welt aus Wissenschaft besteht, Beweise sind die Grundlage allen Denkens. Das reale Leben bestimmt den Planeten. Ein bisschen ist das ja schon so, aber das Geld steht über allem, und die Wirtschaft, die Banken. Die Politik sollten wir loswerden. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, so langsam aber sicher könnte man jedoch ohne eine Regierung leben, denn sie besteht auch nur aus Menschen, die Lügen erzählen. Ein großer Fokus sollte auf Kunst und Kreativität gelegt werden. Das kommt allerdings von allein, denn wenn sich Menschen nicht mehr um Geld kümmern müssen, haben sie Zeit, ihre Gedanken zu erforschen und auch offener zu werden für neue Dinge. Der ganze Scheiß, der passiert, also Menschen, die schlechte Dinge tun, wären prozentual in der Minderheit. Vermeiden lässt sich das natürlich nicht, denn wir sind noch immer Tiere. Also ganz einfach gesagt: An erster Stelle die Wissenschaft, danach Kunst, und dann die schlechten Dinge.

motor.de: Und von was leben die Menschen deiner Meinung nach, wenn sie kein Geld haben?

Chris: Von Ressourcen. Es gibt genug davon. Geld ist ein von Menschen erfundenes Konzept, es ist einfach nur da, damit man handeln kann. Geld waren früher nur Stöcke mit einer Markierung, die den Wert anzeigte. Es ist natürlich schwer, den Menschen an eine Welt ohne Geld zu gewöhnen. Mir geht es bei diesem Konzept nicht um Kommunismus, sondern um Technologie und Wissenschaft und damit gibt es auch genug Rohstoffquellen, um alle zu versorgen. Für jeden Menschen ist so viel da, wie er benötigt. Natürlich gibt es noch Lücken in meinem Konzept, denn ich weiß noch nicht genau, wie man herausfindet, wie viel jeder individuell benötigt. Aber es würde funktionieren.

motor.de: Du hast ja bereits einen Song über das Verlassen von England geschrieben, auf dem neuen Album befindet sich auch einer über deine Heimatstadt. Mit was setzt du dich bei “Oh Beautiful Town” genau auseinander?

Chris: Es steckt noch immer in mir. Ich bin dort aufgewachsen und wollte ein bisschen tiefer greifen. “Think Of England” beschreibt meine Flucht aus London, diesmal geht es um meine Heimatstadt. Ich habe bisher nie wirklich über meine Heimat und Kindheit geschrieben. Bei diesem Song entschied ich mich dazu, diesen Schritt zu wagen. Es ist ein komischer Song für mich, da ich mich während des Schreibens sehr beschämt fühlte. Auch hier hatte ich Schwierigkeiten, es fiel mir alles andere als leicht. Ich denke, meine Eltern sind nicht sehr glücklich über den Song, denn er spiegelt kein strahlendes, wundervolles Bild meiner Kindheit wieder. Aber wir sind ja auch nicht auf der Welt, um unseren Eltern gefällig zu sein.

IAMX – “Think Of England”

motor.de: Du hattest vorhin erwähnt, dass du nicht noch einmal so eine Platte machen möchtest. Was ist denn deine Vorstellung für die kommenden Jahre? Möchtest du mehr mit anderen Menschen zusammen arbeiten?

Chris: Ich glaube, das wäre schwierig und würde dann auch nicht wirklich eine IAMX-Platte sein. Ich werde zunächst wieder eine kleine Pause einlegen, um mich zu regenerieren. Im Moment würde ich gern der Erfahrung nachgehen, ein Niemand zu sein. Damit meine ich, mich in einer Band im Hintergrund zu halten, für jemand anderen Gitarre spielen oder solche Dinge. Allerdings habe ich auch ein paar andere Projekte, denen ich mich widmen möchte. Eines davon ist ein Projekt mit drei Leuten: ich als Produzent, mein Freund James Cook als Songwriter und Janine, die auch zu Iamx gehört, steht auf der Bühne. Außerdem will ich einen Film machen. Eine sehr kurze Geschichte. Ich würde sie nicht schreiben, im Geschichtenschreiben bin ich furchtbar schlecht. Aber ich würde gern die technischen Sachen übernehmen. Das wäre vermutlich interessant.

Interview: Elli Eberhardt

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