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(Foto: Heide Prange)
Eigentlich ist es ja fast schon wieder egal, und eigentlich haben wir alle ja schon längst wieder ganz andere System-Sorgen. Aber vielleicht lohnt mit dem Abstand von einer Woche nach dramatischer Bundestagswahl doch noch einmal der analytische Rückblick auf diese Sache da mit der CDU, Volker Kauder und den Toten Hosen.
Erstere hatten sich – in Vertretung Volker Kauders – bei ihrer Wahlparty zu einer schwungvollen Karaoke-Darbietung des Songs 'An Tagen wie diesen' von den Toten Hosen hinreißen lassen und letztere durften dann ein paar Tage später offiziell ihren Unmut über eine derartige Zweckentfremdung verlautbaren. Die Band sprach in diesem Zusammenhang von einem 'Autounfall', der da zu bestaunen gewesen sei – und insbesondere die Fans der Band machten lautstark Stimmung gegen die CDU, ein bisschen aber auch gegen die Band selbst.
Soweit eigentlich alles klar. Eine Band schreibt einen Hit, der wird dann von einer eher uncoolen Partei im Rausche der Nacht bildstark intoniert und irgendwie ekeln sich kurz alle öffentlich voreinander. Was aber bedeutet das für CDU, Kauder und die Hosen, und was beudetet das eigentlich für uns, die Popmusik und die Zukunft?
Vielleicht kann man das Problem ja zu Beginn folgendermaßen betrachten: Zwar lässt sich die Nutzung eines einmal veröffentlichten Artefakts nachwirkend so gut wie nicht mehr regulieren, gleichwohl kann ein Urheber durch die Gestaltung seines Produktes die schlichten Wahrscheinlichkeiten einer ungewollten Zweckentfremdung dann doch zumindest beeinflussen. Würde es im Refrain von 'An Tagen wie diesen' etwa heißen: 'An Tagen wie diesen / Ist es mitunter kompliziert / eindeutige Aussagen über die Zukunft zu machen / denn die Kontingenz der Möglichkeiten hängt von zu vielen unbestimmbaren Parametern ab', dann wäre der Song vielleicht eher nicht zum Karaoke-Schlager der CDU geraten.
Das freilich soll nicht heißen, dass möglichst komplizierte Texte zu besserer, anspruchsvollerer Musik führen – ganz im Gegenteil. Ein 'guter' oder möglichst schlauer Text, was immer das bedeuten mag, hat noch nie einen schlechten Song zu einem guten gemacht. Hingegen dürfte die Reihe irrsinnig guter Songs mit sehr banalen Texten eine der umfassendsten der Welt sein. Gleich gefolgt von einer Liste an Filmen, in denen ein Mann irgendwo hingeht.
Doch klar ist auch, wer ganz bewusst sehr anschlussfähige Musik macht und darin eindeutige Rosamund-Pilcher-Botschaften vermittelt, der darf zumindest eines nicht: Sich wundern, wenn die Falschen mitsingen. Das ist das Risiko, das Popmusik immer eingeht, aber dieses Risiko macht Popmusik auch zu der immer wieder neu zu verhandelnden Gratwanderung, die wir alle – oder zumindest viele von uns – ja so verehren. Pop vermittelt nun einmal seit bald 5.000 Jahren zwischen dem Profanen und dem Sublimen, zwischen stinkendem Müll und der heiligen Jungfrau.
Dieses immanente Risiko kannte der gute Jan Delay auch schon, und so versuchte er jenen Fluch mit dem damals irgendwie sensationellen Song 'Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt' durch seine explizite Benennung zu bannen. Natürlich ein absolutes Ding der Unmöglichkeit, trotzdem ein toller Versuch des Scheiterns, das muss man sagen. Und für Leute wie mich war dieser Song damals der absolute Gipfel des Subversiven gegen eine Welt der Abscheulichkeiten.
Weitere Jan Delay-Videos gibt es auf tape.tv
Wer aber als Künstler explizite Angst davor hat, seine Produkte könnten nicht nur von den vermeintlich Richtigen gehört und rezipiert werden, der sollte es am besten gleich ganz lassen. Das sollten am besten alle wissen, Erschaffer wie Öffentlichkeit gleichermaßen – und ohne Risiko ist jedes Gelingen nur etwas für die Buchhaltung.
Und nur das vermeintlich richtige und dem Produkt die verdiente Ehre erweisende Publikum zu erreichen, das war schon der verzweifelte Versuch des noch verzweifelteren österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard. Dieser war, und das hatte natürlich zu seiner Zeit sehr viele unterschiedliche Gründe, die an dieser Stelle leider ausgespart werden müssen, stets so in Rage und verbittert über die Umstände der Welt und damit auch der Rezeption seines Werkes, dass er irgendwann einmal das Ideal einer für ihn perfekten Theater-Aufführung entwarf.
Ein von ihm geschriebenes Stück müsse an nur einem einzigen Abend überhaupt, an der besten Bühne der Welt, vom besten Regisseur der Welt, mit den besten Schauspielern der Welt uraufgeführt werden – und dann nie wieder. Zudem wollte Bernhard dabei mit einem Gewehr hoch über den Köpfen der Zuschauer sitzen und einzelne Besucher während der Aufführung erschießen, würden sie an einer falschen Stelle lachen. Eine wahnsinnig schöne Idee, wie alles Utopische. Geklappt hat es nicht und der einzigartige Thomas Bernhard konnte irgendwann nicht mehr und starb.
Also, schießen oder weitermachen!
Timon Karl Kaleyta
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