Samstag, der 13. August am frühen Abend. Energischen Schrittes gehe ich auf den Haupteingang des Festivalgeländes am Postbahnhof zu. Man hört bereits die Musik von der Outdoor-Bühne, die gelegentlich durch ankommende oder losfahrende Gruppen von Leuten auf Motorrädern übertönt wird. Den ersten Tag des Festivals habe ich aus Gründen verpasst, das Line Up gefällt mir aber heute ohnehin viel besser.

Hallo, Hakan Halaç der Name, ich stehe auf der Gästeliste“, sage ich zu dem Jungen man am Einlass. “stelisten-Einlass ist da hinten ein mal um die Ecke” bekomme ich in einem Ton erwidert, der mich glauben lässt, dass der gute Mann den Satz heute nicht zum ersten Mal gesagt hat. Ich gehe also zur Frau entsprechenden Einlass. “Deine +1 bleibt frei, ja?“, fragt sie mich. „Ähmmmm, nee, also ja, hat gerade kurzfristig abgesagt, heheh“ stottere ich mit brüchiger Stimme und applaudiere mir innerlich selbst für diese wahnsinnig unsouveräne Performance. Ich weiß, dass sie es nur freundlich gemeint hat.

Ich wollte keinesfalls alleine auf das Festival fahren, um mich in die Situation zu begeben und dann einen zynischen Text darüber zu verfassen wie unangenehm das doch war. Ich wollte zum Pure & Crafted Festival eigentlich nur ganz normal mit jemandem hin, mir die Bands angucken, nach Hause gehen, Eis essen und dann einschlafen. Dann hat meine Begleitung allerdings kurzfristig abgesagt und ich auch irgendwie keinen Bock auf eine nervenaufreibende Suche nach Ersatz. Außerdem beginnt bald auch schon Tricky’s „Skilled Mechanics“ Live Set und das will ich auf keinesfalls verpassen. Dazu an späterer Stelle mehr.

Eigentlich wollte ich den Artikel “10 Dinge, die ich alleine auf dem Pure & Crafted Festival gelernt habe” nennen, aber Punkt 4 hättet ihr mir nicht geglaubt.

Ich steuere als erstes die Halle und den Hof an, in dem verschiedene Aussteller mit ihren Produkten oder Dienstleistungen vertreten sind. Schnell merke ich: die Coolness, die auf diesem Festival herrscht, ist unfickbar. Der Großteil der Besucher waren echte Biker, womit ich aus irgend einem Grund anfangs nicht rechnete. Noch während ich an den Ständen vorbei schlendere spielte ich immer wieder mit dem Gedanken, mein komplettes Konto zu plündern und mir noch heute auf diesem Festival das Aussehen eines Bikers zuzulegen, um mich dann nach und nach in die Subkultur einzugliedern und irgendwann von ihnen als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert zu werden (so funktioniert das doch, oder?). Nachdem ich bei meiner zweiten Runde allerdings mal die primären Kosten für diese Entscheidung zusammenrechnete, musste ich einsehen dass mein Erspartes vielleicht gerade so für einen Gürtel aus dem mittleren Preissegment reicht. „Echtes Handwerk hat eben seinen Preis“ denke ich mir, und plötzlich komme ich auf den Trichter warum der Spaß überhaupt „Pure & Crafted“ heißt. Gut, immerhin gibt es hier noch die Musik, die kann hier jeder Gast ganz fernab seines Einkommens genießen.


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Bis Tricky’s „Skilled Mechanics“ spielen sind es noch knappe dreißig Minuten. Langsam gehen mir die Beschäftigungen aus und ich habe das Gefühl, das merkt man mir auch an. Alleine auf einer solch eindrucksvollen Veranstaltung fühlt es sich an wie auf einer Party zu sein, wo scheinbar jeder Spaß hat, auf welcher man selber jedoch nicht so richtig den Anschluss findet weil man kaum jemanden kennt und alle auf andere Dinge stehen als du. In meiner Nervosität greife ich also zu der fatalsten Übersprungshandlung, die man sich Vorstellen kann: Ich tausche ein paar Kontaktdaten am Promotionstand gegen eine Schachtel Zigaretten ein.

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Normalerweise rauche ich nicht, doch die Zigaretten töten die Zeit. Ich bilde mir ein, beim Rauchen so auszusehen als würde ich nur kurz eine Pause von etwas nehmen, dabei habe ich mir lediglich nach jeder Zigarette einen neuen Ort auf dem Gelände gesucht und dann dort weitergeraucht. Das habe ich dann so lange gemacht, bis Tricky’s „Skilled Mechanics“ auf der Outdoor-Bühne begonnen haben zu spielen. Und dann wünschte ich mir, ich hätte einfach noch ein bisschen Zeit darin investiert, eine Begleitung für den Abend zu finden. Denn das, was Tricky da aufs Parkett gelegt hat, war ein großer Graus, von dem ich heute noch nachts schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen werde. Tricky wirkt apathisch und unbeholfen, sein Drummer und Gitarrist schauen relativ hilflos obendrein. Als könnten sie selber nicht so richtig verstehen, wer eigentlich diese seltsame Mischung aus Live-Instrumenten und Playback zusammengewürfelt hat.

Das bisschen Energie, was da auf der Bühne entstand, genügte nicht mal um die erste Reihe zu erreichen. Diese war aber ohnehin nur wegen Noel Gallagher da.

Eine Mischung aus Langeweile, Müdigkeit und Enttäuschung machte sich in mir breit. Enttäuscht war ich allerdings vor allem von mir selber. Habe ich hierfür gerade wirklich angefangen zu Rauchen?

Ich mache mich also auf den Weg zur Bar, um meinem Tabakkonsum mit Alkoholkonsum entgegenzuwirken. Die Qualität meiner Übersprungshandlungen habe ich längst aufgehört zu bewerten. Auf dem Weg zur Bar laufe ich an einer großen Traube von Menschen vorbei, die einem Typen dabei zuhören, wie er den Motor seines Bikes auf Lautstärke eines startenden Jets röhren lässt. Schallender Applaus. Ich grinse, weil hier gerade tatsächlich mehr abgeht als auf der Outdoor-Bühne. Dort haut Tricky vielleicht ab und zu mal versehentlich einen Mikrofonständer um, aber das war’s dann auch.

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In meinem leichten Tabak- und Alkoholrausch bringe ich genug Mut auf, um Liam Cormier von den Cancer Bats anzusprechen. Er ist mit seiner Modemarke TREADWELL in der Messehalle vertreten und wir unterhalten uns kurz über Design, Bikes und darüber, dass sich hier eigentlich alle heimlich auf das Frank Carter & The Rattlesnakes Konzert nachher warten. Bis dahin sind es noch 2 Stunden und in der Zwischenzeit es spielen Noel Gallagher & The High Flying Birds. Vereinzelt laufen mir ein paar Freunde und/oder Bekannte auf dem Gelände über den Weg, mit welchen ich kurze Smalltalks halte. Ich beende jedes Gespräch aber eigenhändig mit den Worten „Ich will dich gar nicht aufhalten, ich muss auch weiter, bis später!“. Falls jemand von euch, die ich auf dem Festival getroffen habe, das hier lesen sollte: Das war gelogen. Ich musste nirgends hin und hätte mich am liebsten einfach an euch geklammert und nie wieder losgelassen. Aber wer will schon diese Person sein?

Noel Gallagher & The High Flying Birds beginnen. Ich mache es kurz, um diesen Artikel nicht allzu negativ wirken lassen zu wollen: Ich konnte mit Oasis nie viel anfangen und auch die Performance von Noel Gallagher und seiner Band ließ mich kalt. Bis auf die hervorragende Arbeit vom Soundmann blieb nichts hängen außer das Aroma meines in Tabak getränkten Speichels, den ich mit Apple Cider bekämpfte. An meiner Meinung zu dem Konzert ist weder die Band, noch das Booking schuld – viele andere Besucher hatten nämlich merklich großen Spaß an der Show. Ich wiederum freute mich darauf, dass das Konzert immer näher kam, welchem ich den ganzen Tag schon entgegenfieberte: Frank Carter & The Rattlesnakes auf der Indoor-Bühne. Während draußen gerade Noel Gallagher irgendwelche Songs über Champagner Supernovae und Wunderwände zum Besten gibt, füllt sich die Indoor-Bühne nach und nach mit Hardcore-Kids in kaputten Vans Authentic. Alle wissen insgeheim, dass jeder, der jetzt gerade hier ist, sich eigentlich die ganze Zeit auf dieses Konzert gefreut hat. Man erwartet viel.

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In einem komplett mit Blumenmuster bedruckten Sakko betritt das Rothaarige und komplett zugeackte Energiebündel Frank Carter die Bühne und gibt den Besuchern ein Konzert das so intensiv ist, dass Frank aufgrund einer resultierenden Rückenverletzung alle kommenden Konzerte nach diesem Abend absagen muss. Die Stimmung ist ausgelassen und frei, Frank Carter hat das Publikum fest im Griff. Und kaum jemand hatte daran gezweifelt – wer Frank noch aus seinen Zeiten als Frontmann von Gallows kennt, der weiß, dass dieser Mann jederzeit bereit ist, an seine körperlichen Grenzen zu gehen. Mit den Rattlesnakes stimmt er mittlerweile zwar vergleichsweise seichte Töne an, hat aber die Inbrunst und Energie, die ihm inne wohnen, nie verloren. Dies stellt er auch an diesem Abend erfolgreich unter Beweis.

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Nach dem Konzert ist die Erlösung in den Gesichtern der Besucher abzusehen, die sich diese Show redlich verdient haben. Meine restlichen Zigaretten verschenke ich unter anderen Besuchern und Hilfsbedürftigen in der S-Bahn. Währenddessen frage ich mich, warum ich mir diese Packung überhaupt haben wollte, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich sie nicht brauche. Ich schätze, dass ich mir gewünscht habe, dass es die Musik ist, die den Einfluss auf mich hat, den ich selber nicht aufbringen kann. Ich war wie ein rebellierender Jungendlicher, der sich insgeheim wünscht, für seine Taten Resonanz zu erhalten und eigentlich nur eine führende Hand braucht. Und wenn das bedeutet, dass Frank Carter sich im Eifer der großartigen Show eine Rückenverletzung zuziehen muss, damit ich meine Kippen loswerde, dann hat es sich zumindest für mich gelohnt. Bis ich allerdings als waschechter Biker durchgehe, muss ich wohl noch ein paar mal zum Pure & Crafted Festival fahren. Alleine.