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Hamburg im Spätherbst. Nieselregen und Katerstimmung. Im größten Park der Stadt stehen Tocotronic auf der Bühne und spielen, davor knapp 80 Fans, denen nicht nur das Wetter, sondern auch dieser Auftritt gründlich gegen den Strich geht. Sie werfen Becher und Büchsen, zeigen mit lautstarken Buhen und Pfeifen deutlich ihren Unmut. Sie brüllen und sind richtig böse. Einige von ihnen rennen in Richtung Bühne, peilen das Schlagzeug an, stürmen die Bretter und trampeln hemmungslos das Drumkit zu Kleinholz. Nun kann es auch die restlichen Anwesenden nicht mehr halten, sie zerdeppern die Gitarren, setzten die Verstärker in Brand und legen die Bühne in Schutt und Asche. Die Band schafft es mit Schürfwunden und ramponierten Klamotten gerade noch rechtzeitig von der Bühne…
“Das ist ja alles bestens gelaufen. Ich bin positiv überrascht”, erklärt Dirk von Lowtzow wenige Augenblicke später und wischt sich das Blut von der Wange. Künstliches Blut wohlgemerkt. Denn bei diesem Gig handelt es sich nicht um ein ‘normales Konzert’, sondern um den Videodreh zur neuen Single ‘Aber Hier Leben, Nein Danke!’. “Ich glaube, das Randalieren hat den Leuten mehr Spaß bereitet als wir vermutet haben”, grübelt Schlagzeuger Arne Zank und schaut rüber zur Bühne, die einem Schlachtfeld gleicht.
Doch nicht nur der eigenwillige Videodreh zeigt die Äußergewöhnlichkeit einer Band, die nach elf Jahren immer noch nicht müde ist, über die Unzulänglichkeit der eigenen Welt und den täglichen Überlebenskampf zu nörgeln. ‘Aber Hier Leben, Nein Danke!’ ist wohl einer ihrer besten Songs, und bietet ein großes Stück Verweigerung und Desillusion. Erträglich wird das Dasein nur durch die Ironie, die sich permanent offenbart (“Ich mag erschaudern und das nicht zu knapp/Ich gebe jedem etwas ab”), sowie ein gewisses Maß an gesundem (?) Optimismus, der sich ab und an zeigt.
“Wir fühlten von Anfang an, dass dieser Track die neue Single sein könnte. Die aufkommende Nationalisierung deutscher Popkultur empfinden wir als furchtbar und deswegen ist ‘Aber Hier Leben, Nein Danke!’ ein Statement, das diesen Standpunkt vertritt.” Dass man den Titel auch als einen Gag auffassen könnte, ist sich Dirk von Lowtzow sehr wohl bewusst, doch Probleme bereitet ihm das nicht: “Das Stück hat ja auch eine sarkastische Seite, weswegen man es auch als einen Joke verstehen kann. Es beschreibt einfach, was uns bei den Studiosessions so durch den Kopf ging.”
Nur neun Tage dauerten die Aufnahmen zum neuen Longplayer ‚Pure Vernunft Darf Niemals Siegen’ und die Vorabsingle repräsentiert sehr gut, was sich auf dem großen Bruder abspielt: Resümee und Standortbestimmung, persönliche, sehr metaphorische Texte, musikalisch rauher und ungezwungener als auf dem selbstbetitelten Vorgänger. Ob die Songs jedoch die alte Trainingsjacken-Gemeinde mit ihrer ehemaligen Lieblingsband wieder versöhnen können, bleibt zunächst offen. Auf nonverbale Kritik bei der anstehenden Tour sind sie jedenfalls bestens vorbereitet, denn wie man sich bei Tumulten aus der Affäre zieht, haben sie oft genug geübt. Pardon, geprobt.
Text: Marcus Willfroth
P.S.: Tocotronic haben sich als Weihnachtsmänner verkleidet und so wird es die Single “Aber hier leben, nein danke” am 24.12. exklusiv vorab als Download geben, bevor es sie am 24.1. dann auch als Silberling geben wird. Ende Januar gehen Tocotronic auf ausgedehnte Tour in Oesterreich, Deutschland und der Schweiz.
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