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Interview

“Ich produziere einfach die Musik, die ich mache. Und das ist Stinkefinger genug”

Ein Interview mit Kerosin95

Die neue EP von Kerosin95 ist eine musikalische Kampfansage – nicht nur gegen transfeindliche Menschen – sondern gegen jede Art von Schubladendenken. Vergangenen Mai konnte man Kem (alias Kerosin95) gleich zwei mal im ausverkauften Berliner Schokoladen live sehen. Eine gute Gelegenheit, mit Kerosin95 über das neue Album “Trans Agenda Dynastie”, Identität und Raumeinnahme im digitalen Raum zu sprechen.

motor.de: Die neue EP Transgender Dynastie ist seit März veröffentlicht. Und auch wenn die Pandemie noch nicht vorbei ist – wie fühlt es sich an, wieder eine richtige Tour zu spielen, vor allem mit der größeren Besetzung?

Kerosin95: Die größere Besetzung gibt es nur in Österreich zu sehen, weil es in Deutschland einfach finanziell noch nicht ganz klappt. Es fühlt sich krass an, auf Tour zu sein. Es hat lange gedauert. Ich kann es dann erst wirklich glauben, dass es passiert ist, wenn ich wieder heimfahre und das alles abgeschlossen habe. Vorher bin ich noch zu suspicious [lacht]. Ne, aber wir hatten jetzt den Start der Tour, dann fahren wir wieder heim, spielen wieder, fahren wieder heim. Also kleine Rutschen. Es war sehr aufregend und krass und gleichzeitig fühlte es jetzt schon wieder so an, als ob nie eine Pause da war. Also ich glaube, ich komme dann doch schnell wieder rein.

Motor.de: Wie ist die Resonanz zu der neuen EP?

Kerosin95: Voll gut, voll schön! Ich kann es nicht ganz zusammenfassen, oder habe jetzt nicht den besten Überblick, aber ich glaube, es kommt gut an. Vor allem gibt es jetzt immer mehr Publikum, das Deutschland based ist – Publikum, das das Projekt noch vor zwei Jahren nicht kannte. Es gibt das Projekt ja noch nicht so lange. Aber ich glaube es war schon gut, einfach wieder neue Songs rauszubringen und nachzuliefern. Das war ja auch die Idee dahinter, einfach wieder was zu ballern.

motor.de: Beim Hören deiner beiden Alben hatte ich auch das Gefühl, dich sehr genau kennenzulernen. Also der offene Umgang mit Verletzlichkeit, Liebe, aber auch Dominanz oder Wut. Was macht das mit dir, diesen musikalischen Tagebucheinträgen – vor allem immer wieder live – Raum zu geben? Ist das für dich persönlich? Weil man gräbt ja immer wieder Gefühle aus.

Kerosin95: Ja das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist, weil ich mich jetzt nicht jedes Mal, wenn ein Song performt wird, komplett emotional ausgrabe. Das wäre echt scheiße, wenn es so wär’. Ich könnte dann den Job nicht machen, glaube ich. Am Ende des Tages ist nicht jede Show bei jedem Song emotional, nur weil es emotional geschrieben wurde oder der Song emotional sein kann, sondern es ist auch viel Performance. Es ist auch für mich viel “Ich versetze mich da vielleicht wieder hinein” – aber auf eine performative Art und Weise und nicht auf einer Metaebene von “Ich bin in der Trauer drin” oder so. Das will ich auch gar nicht. Das würde keinen Sinn machen und der Job wäre extrem anstrengend – noch viel anstrengender. Und deswegen: Wenn du fragst, wie es für mich ist – es sind einfach Songs, die auch nicht Tagebucheinträge darstellen. Also es ist relativ eine Ebene von Show und Performance. Wir machen diese Shows ja oft. Das sind Abläufe, die ähnlich sind, die gleich sind, jeder Abend ist einfach Arbeit – Lohnarbeit. Ich glaube, das wird oft sehr romantisiert oder wirkt sehr dramatisch von Außen, wenn ich das dann so performe. Aber es ist halt einfach auch mein Job.

motor.de: Ich hatte ein bisschen Schwierigkeiten, deinen Umgang oder den Kontakt mit den Fans einzusehen. Wie ist das so? Wo sind also Berührungspunkte mit Fans auf der Bühne, abseits der Bühne?

Also über Social Media passiert ja mega viel. Da ist ja dann doch Kontakt da, der auch immer mehr wird und auch zu viel irgendwann wird, glaube ich. Ich kann da einfach nicht mit allen Leuten in Kontakt treten. Also bei den Shows vor Ort, da gibt es ja auch Merchverkäufe, ich chill mit den Leuten noch wenn’s geht – eine Show ist aber dann doch viel Arbeit und körperlich sehr anstrengend. Ich schaue, was ich nach der Show für Ressourcen und Kapazitäten habe und komme auch zum Merch dazu und schnacke ein bisschen mit den Leuten und krieg da unglaublich schönes Feedback. Ich bin jeden Abend super gerührt und freue mich sehr. Also ganz viel positive Resonanz, was ich so mitkriege. Und die Hater? Denen wird eh langweilig, irgendwann.

motor.de: Das neue Album Transgender Dynastie kommt im Gegensatz zu dem Debütwerk vom Songwriting, vom Klang sehr viel einheitlicher daher. Du hast mal gesagt, dass du für ein Album kein Konzept entwirfst. War das diesmal auch so oder gab es ein klangliches Konzept schon vorher?

Kerosin95: Es ist so, dass ich für dieses Album nur mit einem Producer gearbeitet habe und wir das gemeinsam produziert haben. Deswegen ist es klanglich einfach noch mal anders gepackt. Die Songs auf Volume 1 entstanden mit verschiedensten Songwriter:innen. Also es waren nicht 100 Leute am Start, aber das hat es voll ausgemacht, dass es irgendwie so ein Auf und Ab war. Aber da hatte ich richtig Bock drauf. Das heißt auch Volume 1 aus dem einfachen Grund: “Hier sind Songs, die sind gesammelt, die Platte heißt Nummer eins, viel Spaß”. Und die nächste Platte habe ich Trans Dynastie genannt, weil: so nicht. Weil es für sich selbst spricht.

motor.de: In den bisherigen Interviews, die mit dir geführt wurden, ging es sehr oft um Wut und um Gender. Das sind natürlich zentrale Themen, bei deiner Musik. Die Gewichtung bei den Interviews war, aber oft relativ einseitig. Deine Musik ist ja vielschichtiger als das. Hast du Sorge, darauf reduziert zu werden?

Kerosin95: Ich werde die ganze Zeit darauf reduziert. Das ist die Antwort. [Beide lachen].

motor.de: Okay.

Kerosin95: Also: Richtig geraten. Korrekt. Ich kann gar nicht mehr dazu sagen.

motor.de: In Interviews und auch in Songtexten übst du oft Kritik an der Netzkultur aus. Die Kommentarfunktion bei deinen YouTube Videos ist ausgeschaltet – aus offensichtlichen Gründen. Gleichzeitig genießt du aber den Austausch mit anderen Künstler:Innen über beispielsweise Instagram oder spielst Queer Sims. Wie gehst du mit der Ambivalenz des digitalen Raums um? Also, dass man hier gleichzeitig irgendwo ein Safe Space hat, aber andererseits auch sich mit diesen “Meinungen” auseinandersetzen muss.

Kerosin95: Ich verwende das Wort “Safe Space” persönlich nicht. Also, wenn etwas existiert, ist es irgendeine Art von Safer Space. Das Wort “Safe Space” wird halt viel herumgeschmissen. Das Konzept “Safe Space” ist die Utopie, aber existieren tut es nicht. Also für mich nicht. Das heißt, das Internet ist auch kein Safe Space. Es gibt nur Bubbles, Orte im Internet oder Leute, denen ich folge. Oder einen Algorithmus, den ich mir selber baue, den ich so gestalten kann, dass ich von Content umgeben bin, der mich nicht diskriminiert, sondern empowered. Es ist ein bewusstes Arbeiten mit zum Beispiel Instagram, wo ich mich von Sachen fernhalten kann. Ich kann Leute blocken und löschen. Das kann ich in der physischen Realität nicht. Ich kann YouTube Kommentare deaktivieren, das heißt, ich kann ja auch diskriminierende oder gewaltvolle Situationen etwas “safer” machen. Und deswegen ist es nicht nur ein Ding von “Ich mache nichts”, sondern das ist das Privileg, was ich in der Presence nicht habe. Ich nutze das im Internet so oft ich kann, weil es chillig ist, den Leuten nicht was erklären zu müssen, sondern einfach zu sagen, “so, ich block dich, ciao, und lösch’ alles was, du an Content hast.”

motor.de: Also man muss quasi das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.

Kerosin95: Ich meine, das ist schon sehr utopisch. Also dieses Konzept von Safer Spaces. Nur weil es sich für mich safe anfühlt – ich bin immer noch weiß und autochthon österreichisch. Das heißt ja noch gar nix, nur weil ich queer und trans bin. Also das gilt ja nur für sehr wenige Menschen, wenn ich mich wohlfühle. Und für jede Person ist eine Art von Safer Space wieder was anderes. Das ist so ein riesengroßes Wort, mit dem ich niemals selbst spielen würde. Die Frage ist aber auch eine wichtige, weil es ja dann eher um Utopien geht, und wie wir dort hinkommen. Vielleicht ist es ja schon morgen so weit oder vielleicht sind wir da schon drin. Und dann würde ich sagen: Never.

motor.de: Deine Musik ist ja auch Kampfansage gegen Terfs, macho cis Männer und generell Stereotypen. Man kann aber nicht mit denen kämpfen, die sich komplett abschotten können. Und vor allem im digitalen Raum ist das eben möglich. Wie kämpft man in diesem Raum gegen diese Menschen oder gegen die Vorurteile dieser Menschen?

Kerosin95: Keine Ahnung [lacht]. Das ist gerade so, als ob du mich fragst: “Wie erreichen wir den Sturz des Patriarchats” und ich bin so: “Also ich –  keine Ahnung”. Das ist eine riesige Frage.

motor.de: Absolut.

Kerosin95: Zugänge für Leute, die mich auch diskriminieren, mache ich mir nicht, weil ich habe was besseres zu tun. Also ich schließe alle aus, die mich diskriminieren. Wer macht die Arbeit? Wer nimmt irgendwen an der Hand und hält die Taschentücher bereit? Dann sage ich es sind meine cis Friends, es sind meine Heten-Friends. Die sollen doch zu den ganzen Homo- und Queer-Feindlichen hingehen und sagen “Hey, was mit euch los”. Ich mache das nicht. Ich produziere einfach die Musik, die ich mache. Und das ist Stinkefinger genug.

motor.de: Eine andere Frage, die öfter aufkommt: Identität zwischen Kem und Kerosin95. Wie wichtig ist es dir, Unterschiede und Grenzen zwischen diesen anscheinend flüssigen Identitäten aufzubauen? Wann bist du du, wann Kerosin? Für mich wirkt es, als ob beide ein Teil deiner Identität sind.

Kerosin95: Ja, also Kem ist gleich Kerosin, aber nicht umgekehrt. Also auf der Bühne bin ich Kerosin. Ich bin Kerosin im Internet. Außer es ist nur die Instagram Story für private Friends. Es ist ja auch so: Wie viel Privatleben lege ich in meinen Job? Keine Ahnung. Es ist kontextabhängig. Aber das Projekt ist jetzt natürlich nicht so die Figur, die ich mir nur mehr anziehe und Kem ist gone und irgendwo anders, sondern es ist eine Ebene. Aber es ist auch eine Figur, mit der ich spielen kann und die mal selbstbewusster sein kann als Kem – oder umgekehrt. Also ist sie einfach nur eine Erweiterung von meinem Selbst, die mich pushen kann. Also mich eher auf eine positive Art und Weise supported. Ich meine, es ist ja wirklich einfach nur ein Name, mit dem ich spiele, um mich mit mir selber zu beschäftigen und zu schauen, wie es mir geht, was ich machen möchte. Es ist einfach eine Ebene.

motor.de: Also dient es der Selbstreflektion.

Kerosin95: Ja zum Beispiel, in vielen Sachen. Aber sagen wir das K vorne steht für alles und Kerosin und Kem sind mal fluid, mal weniger – aber eher fluid.

motor.de: Du hast musikalisch schon viele Genres ausprobiert. Du hast ja auch eine weitere Band. Vor allem in dem ersten Album sind verschiedene Genres. Kommen da noch weitere Genres dazu? Hast du noch irgendwas im Auge? Kerosin-Jazz?

Kerosin95: Keine Ahnung. Ich mache jetzt mal das. Aber ich bin auch noch ein Baby. Ich bin erst 27 und mache diesen Job noch solange ich körperlich fit bin. Und solange ich Bock habe. Und was Genre-technisch oder Projekt-technisch entsteht, wo ich mich hin bewege oder worauf ich Lust habe – das weiß ich immer nur vielleicht im jeweiligen Jahr. Aber ich glaube, es kommt noch viel. Wird noch krass.

motor.de: Also erst mal die Trans Agenda Dynastie und dann mal sehen?

Kerosin95: Ja, die ist eh immer ein Leben lang!

Hier könnt ihr Kerosin95 folgen: Instagram // Spotify // Youtube

Tourdaten

12.08.22 – Bildlein – Picture on Festival

10.09.22 – Vöcklabruck – OKH

07.10.22 – Berlin – Badehaus

Nathaniel Hümpfner

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Nathaniel Hümpfner

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