Der britische Wunderknabe James Blake brachte am 16. April 2011 das Berliner Berghain zum Schweigen und lieferte mit stoischer Gelassenheit die Begründung für den, um ihn ausgebrochenen Hype.
Während sich die letzten Sonnenstrahlen vom Berliner Osten verabschieden, öffnet das Berghain seine legendären Pforten, um sich für einen Abend selbst zu beruhigen. Statt den ekstatischen Sieben-Stunden-Sets eines Marcel Dettmanns, soll an diesem Samstag die Ruhe im Hort der Freizügigkeit einkehren. Die Stimmung im charmant düsteren Hauptstadtclub ist vorfreudig entspannt. Flutartig brach der Hype über die Musiklandschaft herein und machte nicht einmal vor denjenigen halt, die mit elektronischer Musik nichts anfangen können. Derart viele Vorschusslorbeeren wie sie Blake genießen durfte, setzen einen skeptischen Drang zur Reaktanz frei. Hält der Live-Auftritt, was der Hype verspricht?
Für aufstrebende Musiker gibt es derzeit sicherlich kaum eine bessere Plattform für die eigenen Ton-Erzeugnisse, als vor James Blake auf die Bühne zu treten. So eröffnen Cloud Boat als Vorgruppe den Samstagabend in bester Blake-Manier mit dämmrigen Rhythmen und wabernden Stimmlinien. Groß gewachsen, beinahe schlaksig und ohne viel Tamtam kommt Blake in die Halle und nimmt auf der rechten Bühnenseite vor seinem Synthesizer Platz. Ben Assiter an den Drumpads sowie Rob McAndrews an der Gitarre komplettieren die bescheidene Dreierbesetzung. Dass das Konzert des Musikhochschulabsolventen nicht zum großen Ernüchterungstermin avanciert, wird bereits mit dem Opener “Unluck” deutlich: Schwermütige Pianoskizzen werden durch disharmonische Drum-Einlagen flankiert, ehe orgelähnliche Störfeuer die Vocoder-verzerrte Stimme ins Wanken bringen. Schon zu Beginn entsteht eine sakrale Stimmung, wenn sich die Klänge am Berghain-Gewölbe entlang hangeln.
James Blake – “Limit To Your Love”
Die Anwesenden sind verzückt, wippen mit dem Kopf, halten ihre Augen verschlossen und lauschen diesem jungen Bub’ in beinahe religiöser Andacht. Ist das Post-Religiosität? Eine Anspielung auf die Diskussionen über die Genrebezeichnung: Mit “Post-Dubstep” hat sich eine Bezeichnung etabliert, die sich zwar durch ständige Wiederholungen durchsetzen konnte, doch so recht vermag sie die dargebotene Musik nicht auf den Punkt zu bringen. James Blake macht Pop, aber eben auch Minimal Music, eine Musiknische also, die dem Pop eher die kalte Schulter zeigt. Obendrein ist er auch Singer und Songwriter. Das zeigt sich am eindrucksvollsten beim mehrstimmigen “I Never Learnt To Share”. Immer wieder wird die Textzeile „My brother and my sister, don’t speak to me, but I don’t blame them“ geloopt, sodass sich selbst die Jubelschreie einiger Zuschauer darunter wiederfinden. Nur schwerlich lässt sich die von ihm ausgehende Faszination leugnen, wenn der Londoner durch das morbide „The Wilhelm Scream“ eine albtraumähnliche Fantasiewelt erschafft. Blake zelebriert die Ruhe, lässt seine Musik setzen und evoziert Aufmerksamkeit. Keine Überfülle, sondern Mut zur Lücke gilt hier als Credo.
Das Geheimrezept des Blake’schen Erfolgs: Trotz der vielen Pausen besitzt die Musik eine ungeheure Dynamik, wie das autotune-gesteuerte „Lindisfarne“ beweist. Dass zumindest der Dubstep-Stempel den Richtigen getroffen hat, zeigt Blake’s größter Hit “Limit To Your Love”. Seine Coverversion der kanadischen Sängerin Feist powert mit einem derart pulsierendem Bass los, dass die Glieder nur so vibrieren. Der Magen wird vom Bass-Vulkan zuerst getroffen, mit aller Vehemenz wandert dieses Monster durch den Korpus. Applaus, Jubel, Begeisterung – 600 Menschen sind hypnotisiert. Mit mehrstimmigem und verfremdeten Gesang, atonalen Klavierpassagen sowie elektronischen Beats baut Blake minimalistische Gebäude, die derart seiden konstruiert sind, dass sie jederzeit auseinander zu fallen drohen. Harter Tobak für einen 22-Jährigen. Nach zwölf Songs und einer Stunde Spielzeit ist das kollektive Schweigen im Berliner Berghain beendet. Die Predigt ist vorüber, die Messe gelesen. Nur das Vaterunser hat gefehlt: Gott sei Dank.
Sebastian Weiss
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