«Tatsächlich stolpere ich nun aufgescheucht und kurzatmig durch die Blüte meines Lebens (…) Öfters frage ich mich: Gehe ich noch aufrecht? Oder schleime ich mich durch meine Zickzack – Existenz wie eine grenzdebile Nacktschnecke auf Speed?»

Im neuen augenzwinkernden Sachbuch Echtleben erklärt Katja Kullmann dem Rest der Welt erneut die Befindlichkeiten ihre Generation – der um die 40-Jährigen. «Die neuen Erwachsenen» nennt sie die und erzählt von sich und ihrem Berliner Freundeskreis. Sie schreibt über die vielen Flexiblen, Kreativen, Freien und muss feststellen: die eigene Biografie ist ein knallhartes Geschäft. Es geht ums Verkaufen, Vernetzen, Aufträge ergattern.

«Warum es heute so kompliziert ist, eine Frau zu sein» erklärte sie 2002 in ihrem prämierten Sachbuch Generation Ally lautete. Nach diesem Erfolg wurde sie zur mäßig bezahlten Freelancerin mit schamhafter Hartz-VI-Erfahrung:«Etwas in mir hatte gehofft, dass die Frau bei meinem Eintritt ins Behördenzimmer laut loslachen würde: “Was wollen Sie denn hier? Haha das ist ja lustig, dass jemand wie Sie zu jemandem wie mir kommt” (…) Dann sagte sie, warum auch immer, dass ich mich nicht schämen müsse. (…) Ganz gegen meine Erwartung schossen mir da Tränen in die Augen.»

In ihrem eben erschienen Buch Echtleben Warum es heute so kompliziert ist eine Haltung zu haben rechnet sie mit den Nullerjahren ab. «Was einst als Lebenskunst gedacht war, ist zur Überlebenskunst verkommen», resümiert Kullmann. Nach erneutem gesellschaftlichen Aufstieg in die Chefetage eines großen Verlages, hängte sie diesen gut dotierten Job schließlich wieder an den Nagel: Als alle festangestellten Redakteure gehen müssen, geht auch sie – freiwillig. Die Frage, wofür man sein kann und könnte, soll und sollte durchzieht das gesamte Werk wie einen roten Faden. «Wie viele Kompromisse kann man eingehen, um einen eigenen Status zu halten – ab wann muss man “Nein danke sagen?”» Die Autorin bietet keine Lösung. Sie lamentiert, der Leser ist amüsiert.

Die Pop-Version von Stephane Hessel

Vor allem Medienschaffenden sei dieses Werk ans Herz gelegt, denndie studierte Soziologin weiß wovon sie spricht und wie man auf unterhaltsame Art Fakten und deren bitterböse Deutung mit Persönlichem verbindet und die Faust in der Tasche ballt. So stellt sie fest, dass deutsche Verlage im Schnitt für freie Mitarbeiter ein Fünftel weniger zahlen, als noch vor zehn Jahren. Also muss man heute mehr schreiben, anschreiben gegen eine täglich gegen eine stetig größer werdende Konkurrenz kämpfen, die es noch billiger und besser macht. Ausbeutung vorprogrammiert; Kullmann findet darum «den Begriff Tagelöhnerei, Wanderarbeiterei wesentlich passender».

Die Echtleben-Episoden, die sie erzählt, sind oft verbittert, häufig anklagend, manchmal witzig. Dass Kullmann selbst stellvertretend für eine ganze Generation steht, kann man nicht behaupten, will sie auch gar nicht. Jedoch ist sie ein  Paradebeispiel für die vielen großstädtischen freien kreativen, die ständig zwischen nächstem Auftrag und  Antrag pendeln. Echtleben spiegelt deren Lebensgefühl realistisch wider, echter als jedes Traktat beflissener Zukunftsforscher. Wer sich durch die 255 Seiten mit Witz und Zahlen unterlegte gesellschaftliche Anklageschrift gekämpft hat, wird nicht schlauer sein aber sich gut unterhalten haben. Die deutsche amüsante Pop-Version von Stephane Hessel. in diesem Sinne: Möge das Buch ein Kassenerfolg werden und Sie weitere sieben Jahre ernähren können, Frau Kullmann!

Katja Kullmann: Echtleben Warum es heute so kompliziert ist eine Haltung zu haben, Eichborn verlag, 255 Seiten, 17,95 Euro, zu kaufen hier bei Amazon