Chartmusik ist Vergangenheitsmusik. Doch wer prophzeit dem Banausen die Hits von übermorgen? Und verschafft dem Connaisseur von heute einen Gegenwarts-High?
Auch in Sachen Musik gilt: wer sich nicht auf seine Freunde verlässt, der ist verlassen. Diese Erkenntnis kam mir mit einer ungeheuren Wucht und einer Plötzlichkeit, die alle zuvor gewesenen popkulturellen Erlebnisse in der Schatten stellen sollte. War es doch mein liebstes Göttinger Pärchen, er Politwissenschaftler, sie Psychologin, die mich auf den Gedanken brachten.
Der Abend fing ganz harmlos an. Ein kühles Bier, eine lockere Runde Billard und dann fielen die ersten Sätze zum sich anbahnenden musikalischen Ereignis schlechthin — das neue Album von The Knife stand an. Sollte man es sich gleich illegal herunterladen? Oder doch auf die vom Künstler gewollte Originalform warten, mit Artwork und der ausführlich komponierten Haptik des Objekts? Lohnt es sich noch, eine neue Stereoanlage anzuschaffen, bevor das gute Stück durch unsere Gehörgänge gespült werden sollte?
The Knife — “Full Of Fire”
Über solche Banalitäten wurden bald weniger Sätze verloren, als über die zukunftstauglichkeit von The Knife. War es nicht das schwedische Geschwisterpaar, das 2003 mit “Deep Cuts” den Sound vorlegte, der jetzt, 10 Jahre später, den absoluten Chartpop definiert? Und was ist mit dem 2006 erschienenen “Silent Shout” — klingt so die Katy Perry von 2016? Man trank, man wurde waghalsiger und legte sich jetzt darauf fest: The Knife sind so etwas wie der zynische Pop-Prophet unsere Tage.
Und so wurde uns auch plötzlich klar, warum die Lead-Single “Full of Fire” uns noch nicht so viel Spaß gemacht hatte, wie erhofft. Das hat etwas mit Hörgewohnheiten zu tun — wir armen Seelen befanden uns ja noch in der Vergangenheit, von der Jahrtausendwende gebeutelt und vom Deutschland-Wahn der 00er Jahre gezeichnet, während Karin und Olof bereits ungeduldig auf den schimmernden Riffs der goldenen 20er surften, die uns ja erst bevorstanden. Dieses schwedischen Super-Zukunftsprojekt von übermorgen. Unsere Systeme waren schlichtweg überfordert.
Josa Valentin Mania-Schlegel
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