1968 tauchten die Namen der Musikstudenten Ralf Hüttner (*1946) und Florian Schneider-Esleben (1947) zum ersten mal in der Musikszene auf. Unter dem Namen Organisation machten sie zunächst Düsseldorf unsicher und ihre Debüt-LP blieb weitestgehend unbeachtet. Die, mit Andreas Hohmann, Klaus Dinger eingespielte und von Conny Plank co-produzierte, Debüt-LP Kraftwerk (1970) erging es da schon anders: Sie bot einen Elektronik-Verschnitt à la Pink Floyd und wurde in zahlreichen angesagten, progressiven Clubs und Diskotheken gespielt. Weitere Einspielungen wie Strom, Spule 4, Wellenlänge, Megaherz festigten das clever projektierte Gruppen-Image einer “Mensch-Maschine” (PR-Slogan). “Wir erfinden Geschichten und illustrieren sie mit Musik”, definierten Kraftwerk ihr Sound-Konzept lakonisch, “und strukturiert ist unsere Musik folgendermaßen: rauf/runter; vor/zurück; schnell/langsam; laut/leise; linear/vertikal; weich/hart; verdichtet/geöffnet; schön/häßlich; dumpf/hell.”
Tatsächlich mochte die Gruppe ihre vom Tubon, einer einmanualen Orgel im Baßregister, dominierten Schwell- und Gluckerklänge nur “einlinig verstärkt” (Produzent Rolf-Ulrich Kaiser) einsetzen, im Gegensatz zu den komplex verschachtelten Tongebäuden, die beispielsweise Tangerine Dream zu türmen pflegte. Diese “hypnotische Hübschheit ihrer Synthesizer-Ausflüge” (“Billboard”) gefiel dem an leichte elektronische Kost gewöhnten US-Rock-Publikum, das die vierte Kraftwerk-LP Autobahn (1974) zu Hunderttausenden kaufte und damit einer zweiten deutschen Band nach Nektar einen überseeischen Goldhit verschaffte. Der mit Klaus Roeder (vi, g), Wolfgang Flür (perc) eingespielte Kassenknüller war von der Kraftwerk-Plattenfirma für nur 5000 Mark angekauft worden.
“Die Realität ist heute so beschaffen, daß in ihr mehr Science-fiction liegt als in einer Reise in den Weltraum”, erkannten die Sound-Laboranten und führten fortan “eine Welt mechanischer Künstlichkeit in all ihrer perversen Schönheit vor: Radio, Mensch-Maschine, Sprachcomputer, Autobahn-Visionen und die Monotonie der Eisenbahn – Utopien der Gegenwart” (Ingeborg Schober). “Wir sind die Kinder von Wernher von Braun und Fritz Lang”, plakatierte Hütter und trat mit seinen Gehilfen wie ein altmodischer teutonischer Tüftler im Beamtenstatus auf. Dieser ironische Kontrast zum hochmodernen Handwerkszeug war nicht allein ein Image-Gag: Kraftwerk bezogen ihre Inspiration von Konstruktivisten aus der Bauhaus-Ära (Maschinenkünstler Lissitzky) und damaligen Rhapsoden des industriellen Aufschwungs wie Wladimir Majakowski. Seit 1975 verfeinerten die Düsseldorfer Esoteriker ihre Soundtracks der dritten Industriellen Revolution in der Besetzung Hütter, Schneider(-Esleben), Flür, Karl Bartos (perc) und stiegen zum einflußreichsten Rock-Ensemble der kommenden Dekade auf. Japanische Techno Pop-Formationen wie Yellow Magic Orchestra imitierten die klassizistisch sparsamen Synkopenläufe, Baßlinien und Percussionssätze; Disco-Designer wie Giorgio Moroder, Chic übernahmen die minimalistischen Klangschleifen und erotischen Rhythmus-Klöppeleien; Hip Hop-Heroen wie Afrika Bambaataa heizten mit Adaptionen des mechanischen Power-Beat aus Germany den tanzwütigen Kids im Ghetto ein; etablierte Rock-Stars wie David Bowie oder New Wave-Newcomer wie Devo borgten von den Synthesizer-Tricks der vorbildlichen Deutschen; Residents-Gitarrist Snakefinger machte The Model zu einem kleinen Hit. Die heimische Presse tat jedoch die Kraftwerk-Musik nicht selten als “Futuristenkitsch” (“Der Spiegel”) ab, fand die “süße Monotonie” der hochvoltigen Klänge “ziemlich unerträglich” (“Sounds”) und war gleich mit der Vokabel “geschichtslos” (“FAZ”) zur Stelle, wenn die Musiker listig-provokant Gitarren als “Instrumente aus dem Mittelalter” diskreditierten. “Wir spielen Studio”, erklärten die vier vom Rhein statt dessen und vereinten in ihrer Musik Horror und Hoffnung, Ekstase und Einsamkeit im technischen Zeitalter (Der Telefonanruf). In ambivalenter Haltung priesen und beklagten sie zugleich die Segnungen der Zukunftstechnik (Computerwelt), legten schwärmerische Melodien über ihren Stakkato-Beat (Spiegelsaal), programmierten sich auf neckisch (Taschenrechner), ließen die Elektronik wie ein verschwitztes Afro Rock-Ensemble rattern (Nummern).
“Sie haben die Seele der modernen Maschinen gefunden und mit einer Humanität ausgestattet, die den meisten ihrer Imitatoren verborgen geblieben ist”, urteilte “Time Out” über “eine der außergewöhnlichsten Gruppen, die jemals zu Pop-Ruhm gekommen ist” (“New Musical Express”). Trans Europa Express (1977) stärkte abermals die Reputation der Gruppe und beeindruckte neben Afrika Bambaataa radikale Bands wie Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle, Deutsch Amerikanische Freundschaft und selbst Einstürzende Neubauten. Dennoch sprangen Hütter und Schneider, die nunmehr für sämtliche Kraftwerk-Kompositionen verantwortlich zeichneten, nicht auf den schnell in Fahrt gekommenen Neue-Deutsche-Welle-Zug auf und schlugen Jahre später selbst ein Angebot von Michael Jackson aus. In den achtziger Jahren veröffentlichten sie lediglich zwei LPs und zogen sich dann vollends in ihr Düsseldorfer Kling-Klang-Studio zurück. Die aufkommende Digitalisierung der Tonstudiotechnik übte erhebliche Faszination auf das kreative Duo aus und brachte sie auf die Idee, ihr gesamtes bis dahin aufgenommenes Material zu digitalisieren. Diese Sisyphusarbeit dauerte Flür und Bartos, ohnehin in die bloße Musikantenrolle gedrängt, schließlich zu lange: 1990 stieg zunächst Flür aus, der für wenige Auftritte durch den Toningenieur Fritz Hilpert ersetzt wurde. Bartos folgte wenige Monate später und gründete die Formation Electric Music; für ihn kam zunächst Fernando Abrantes in die Band, der jedoch wenig später von dem Tontechniker Henning Schmitz ersetzt wurde. Ein publizistischer Nebeneffekt der endlosen Studiofron war das Gerücht, die Erfindungskraft des Duos sei erloschen. Tatsächlich folgte auf Electric Cafe (1986) erst 1991 mit The Mix eine neues Kraftwerk-Album, das allerdings nur Bearbeitungen früherer Kompositionen enthielt. Flür: “Ralf und Florian wissen, daß es besser ist, ganz selten mal ein Album zu bringen, damit dann wieder alle Augen darauf gerichtet sind, anstatt mit ihren Produkten den Markt zu überschwemmen.”
Als Kraftwerk ankündigten, im Mai 1997 in Luton nahe London im Rahmen der Techno-Veranstaltung Tribal Gathering aufzutreten, waren die Erwartungen entsprechend hochgespannt. Hütter und Schneider hatten ihren Sound den neuen Entwicklungen angepaßt und vor allem in neue Technik investiert. An neuen Stücken gab es nur ein Instrumental zu hören. Der fanatische Fahrradfahrer Hütter fixierte weiterhin unbeirrt die Zukunft: “Man kann unsere Musik nennen, wie man will: Science-fiction-Musik, Techno-Disco, Kybernetik-Rock. Ich ziehe den Begriff Roboter-Pop vor, weil er etwas mit unserem Ziel zu tun hat, ohne Zeitlimit an der Konstruktion eines perfekten Popsongs für die Rituale des globalen Dorfes zu arbeiten.”
Perfekt oder nicht – 1999 kassierten Hütter und Schneider für ihr erstes veröffentlichtes Lied seit 1986 400000 DM. Die Auftragsarbeit, ein TV-Jingle zur Weltausstellung in Hannover, dauerte vier Sekunden – 100000 DM pro Sekunde. Vier Versionen des genial einfachen, abwechselnd in Deutsch, Englisch und Französisch vorgetragenen Computer-Textes (“Expo 2000/Mensch, Natur, Technik/Das 21. Jahrhundert/Planet der Visionen”) wurden für eine CD auf 23 Minuten gedehnt – immer noch knapp 290 DM pro Sekunde. “
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