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Der späte Sieg des Walter Ulbricht: “aggressive, anheizende Musik” könnte in Sachsen bald gerichtsnotorisch werden.
Lothar König könnte es damals schon mitbekommen haben, zehn oder elf war er damals: “Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“ Damit kündigte Walter Ulbricht 1965 die Konfrontation der DDR mit der eben erst richtig anrollenden Welle der bürgerlich-dekadenten “Beatmusik” an. Geholfen hat es bekanntermaßen nicht wirklich, eher im Gegenteil. Denn die Musikszene agierte seitdem unter einem generellen Widerstandsverdacht, eine Prophezeiung, die sich zu einem Gutteil tatsächlich selbst erfüllte. Zwar gab es später dann doch geduldete und geförderte Rockmusik – selbstzensurbedingt bedienten sich die Bands gern bei eher unkonkreten Poesie-Texten, was in Kombination mit dem Quasi-Zwang zur musikhandwerklichen Ausbildung immerhin zur Entwicklung eines eigenen Genres, dem Ostrock, führte. Über dessen Qualitäten kann man sich trefflich streiten, für adoleszente Jugendliche und die nicht eben wenigen Gammler, Blueser – später waren waren es auch Metaller, Punks und Popper – spannender waren aber ohnehin jene Bands, die sich der Staatskonformität lieber gleich entzogen.
Lothar König, jedenfalls, könnte jetzt ein spätes Déjà-vu erleben. Dazu muss er bloß in die Anklageschrift wegen einem “besonders schweren Fall von Landfriedensbruch” schauen, die ihm dieser Tage zugestellt werden wird. Der Jugendpfarrer hatte im Februar eine zentrale Rolle bei der großen Antifa-Demo in Dresden gespielt. Der verbissene Eifer und enorme Aufwand, mit dem die Dresdner Staatsanwaltschaft seither gegen diese Demonstranten und vor allem auch gegen den schon zu Ostzeiten drangsalierten König ermittelt, erregt seit geraumer Zeit bundesweit Verwunderung. Da geht aber noch mehr. Die Süddeutsche Zeitung, der die Anklageschrift vorliegt, entdeckte einen ganz besonders pikanten Vorwurf: Er hätte durch das Abspielen von “Musik mit aggressiven, anheizenden Rhythmen” zur Gewalt aufgewiegelt. Welche Musik da aus dem VW-Bus des Pfarrers tönte, konnte die Autorin anhand der Videomitschnitte auch ausmachen: Ton Steine Scherben und etwas Klassik!
Die Scherben gehören natürlich zum Protestsong-Grundinventar einer jeden anständig beschallten linken Demo, die Beschränkung darauf spricht denn aber doch eher für das fortgeschrittene Lebensalter des DJs und die nicht gänzlich taufrische Kenntnis aktueller Demo-Musikstandards: Dort gibts gemeinhin ein paar ordentliche Wummerbeats um die Ohren und ganz sicher auch noch den einen oder anderen Krawallsong der durchaus “Bullenschweine”-expliziten Antideutsch-Punker Slime oder der Polit- und Musikradikalinskis Atari Teenage Riot, die zum Beispiel mit dem sicher streitbaren Kracher “Hetzjagd auf Nazis” bekannt geworden sind. Die fahren sowohl musikalisch als auch textlich ein deutlich schärferes Kaliber, als die Mannen um Rio Reiser vor dreißig Jahren drauf hatten. Legendär ist der Auftritt von ATR auf einer Berliner 1.-Mai-Demo 1999, wo die Band letztendlich abgeführt wurde, weil sie – nach Meinung der reichlich anwesenden Polizei – etwas zu heftig zum Widerstand aufgerufen hatte. Von “aggressiven, anheizenden Rhythmen” erscheint also schon rein musiksachverständlich wenig nachvollziehbar – zumal man davon ausgehen kann, dass die allermeisten anwesenden Polizisten die übliche Demo-Beschallung zur Genüge kennen dürften.
Aber auch der Vorwurf an sich sorgt für Erstaunen. Fragt man in der einschlägigen Demonstranten-Szene – und bei deren Anwälten – herum, kann sich niemand daran erinnern, dass jemals jemand für das Abspielen von Musik auf einer Demo belangt wurde. Zumindest nicht mit Bezug auf den Stil der Musik. Eine gesetzliche Grundlage dafür, Musik als irgendwie gefährlich einzustufen, die nicht auf dem Index steht, existiert schlicht nicht. Hierzulande jedenfalls.
In Großbritannien wurde 1994 der “Criminal Justice and Public Order Act” verabschiedet, eine Law-and-order-Direktive, die sich vor allem gegen die zahlreichen illegalen und drogengeschwängerten Warehouse-Partys richtete. Kriterium dafür war tatsächlich ein musikalisches beziehungsweise rhythmisches: “a succession of repetitive beats”, also eine Abfolge sich wiederholender Beats. Verstanden wurde dieses Gesetz als Kriegserklärung der Post-Thatcher-Regierung an die gesamte Jugendkultur des Popmutterlandes, der Protest dagegen schrieb ein eigenes Kapitel in der Geschichte des englischen Dancefloor und war ein Katalysator für die Explosion an musikalisch enorm wichtigen Pirate Radiostations.
Noch etwas weiter zurück reicht der Antimusikszene-Feldzug von Tipper Gore, die mit ihrem “Parents Music Resource Center” unter enormem Lobbyaufwand – und als Frau des späteren Vizepräsidenten Al Gore bestens politisch vernetzt – Mitte der Achtziger maßgeblich dafür sorgte, dass in den USA jegliche Musik unter Beschuss geriet, die sich nicht mit den streng christlichen Familienwerten des weißen Mittelklasse-Amerika vereinbaren ließ. Also praktisch jede HipHop-, Metal- und Punkrock-Band. Ihr sind die heute noch gebräuchlichen “Parental Advisory”-Sticker zu verdanken, die sich die genervte und finanziell kampagnengeschädigte Musikindustrie damals mehr oder weniger freiwillig auferlegte.
Der geborene Ostblockler kann über derlei natürlich nur gelinde schmunzeln. In der DDR konnte man als Musiker oder auch nur Musikfan schnell ernsthaft in Schwierigkeiten geraten: “asoziales Verhalten” oder – schlimmer noch – “staatsfeindliche Hetze” waren die absurden und trotzdem gesetzlich abgesicherten Vorwürfe, die Dauerüberwachung, Berufsverbot oder gar Knast mit sich bringen konnten. In der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvorstellbar. Oder besser: bis heute unvorstellbar. Die Strafe für “besonders schweren Landfriedensbruch” liegt in der Bundesrepublik Deutschland bei einem halben bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Exakt das wird dem bärtigen Ost-Pfarrer vorgeworfen. Unter anderem, weil er Ton Steine Scherben gespielt hat. Wenn sich dieses Argument gerichtlich durchsetzt, hat Ulbricht doch noch gewonnen. Sogar über den Westen.
Augsburg
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