Wie, schon wieder ein neues Kante-Album?
Nicht ganz, eher ein spontaner Spin-off eines sehr außergewöhnlichen Projektes von Kante-Texter, Sänger und Gitarrist Peter Thiessen.
Rückblende. Sommer 2005:
„Die Tiere sind unruhig“ ist gerade erschienen. Eine Tour mit Konzerten in rund 50 Städten steht an, die Termine reichen bis in den Dezember.
Jan Dvorak, ein Operndramaturg, der bei drei Stücken von „Die Tiere sind unruhig“ das kleine Orchester dirigiert hat, fragt Peter Thiessen als Texter für ein Revuetheaterstück des Berliner Friedrichstadtpalastes an.
Peter daraufhin wagemutig: „Klar!“
Dvorak schickt ihm das Buch zu „Rhythmus Berlin“, das der künstlerische Leiter des Friedrichstadtpalastes und Regisseur von „Rhythmus Berlin“, Thomas Münstermann, geschrieben hat.
Der Plot ist inspiriert von dem Stummfilm „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ von Walter Ruttmann aus dem Jahre 1927. Dieser Dokumentarfilm ist ein Portrait des wilden Berlin der Roaring Twenties, das viel Ähnlichkeit mit dem Berlin von heute hat – verdammt dazu, „ständig zu werden und niemals zu sein“, wie der Kritiker Alfred Kerr schon damals schrieb.
Nach einer Spätvorstellung des Stummfilmklassikers begegnen sich die beiden Protagonisten von „Rhythmus Berlin“ zum ersten Mal. Für einen flüchtigen Augenblick sehen sie sich einen Moment lang in die Augen, danach lässt sie das Bild des anderen nicht mehr los. In 24 Stunden und ebenso vielen Bildern wird nun die Geschichte einer Suche in der scheinbar auf dem Kopf stehenden Stadt, wo sogar die Goldelse auf der Siegessäule tanzt, erzählt – bis zum Wiedersehen am Ausgangspunkt.
Peter Thiessen selbst wirft die Frage auf: “Hamburger Schule Typ macht Texte für eine Revue über Berlin am Friedrichstadtpalast – das ist auf den ersten Blick natürlich erstmal eine recht absurde Kombination.“ Aber er hat auch gleich eine Erklärung parat: „So weit weg war das für mich dann doch nicht: Das Thema Stadt hat seit ein paar Jahren einen festen Platz auf unseren Platten, Lovesongs sowieso. Und: Da wir “Die Tiere sind unruhig” in Berlin geprobt und aufgenommen hatten, habe ich letztes Jahr fast zur Hälfte in Berlin verbracht. Wenn es in Deutschland überhaupt eine Großstadt gibt, dann ist das Berlin. Zumindest ist Berlin die Stadt, die am meisten von der Vorstellung “Großstadt” lebt, und sei es nur als Fiktion einer Freiheit, Entgrenzung, Zügellosigkeit und Freiräume versprechenden Urbanität.“
Gleichzeitig war Thiessen fasziniert von der Tradition des Friedrichstadtpalastes: In den 20er Jahren von Max Reinhard gegründet, arbeiteten dort so illustre Gestalten wie Marlene Dietrich, Friedrich Holländer, später standen Leute wie Juliette Greco auf der Bühne. “Für mich gehören viele Songs der 20er Jahre zu den tollsten, die ich in deutscher Sprache kenne. Die sarkastische, ironische und trockene Art zu erzählen, die Respektlosigkeit vor Autoritäten, der Entwurf selbstbewusster neuer, vor allem weiblicher Rollenbilder, die unglaublich freizügigen Texte jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen, wirklich libertäre Lebensentwürfe – so etwas hat es in Deutschland ja nicht besonders oft gegeben. Und für ein Haus Texte zu schreiben, das aus dieser Tradition stammt, das noch immer alles selber macht und produziert: Texte, Songs, Choreographien, etc. etc. – ditt is ja wohl n Traum, wa ?“.
Peter schreibt den Winter über 18 Songtexte und zu ein paar Texten auch gleich die Musik. Für die Idee, ein paar der Songs – teils mit neuer Musik – auch mit Kante aufzunehmen, muss er bei seinen Bandkollegen ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten. Da Thomas Leboeg, der Kante-Stamm-Keyboarder, mit anderen Projekten beschäftigt ist, ist diesmal als besonderer Gast wieder Michael Mühlhaus dabei. Als es dann ohne vorherige Proben für 12 Tage ins Chez Cherie Studio in Berlin-Neukölln geht, haben die Jungs solchen Spaß, dass acht fantastische Stücke entstehen. Allesamt live aufgenommen, kaum Overdubs, wie beim letzten Album mit Produzent und Toningenieur Torsten Otto, dem es hervorragend gelungen ist, die Magie des Augenblicks einzufangen, die unbändige Spielfreude der Musiker und die Raffinesse der Arrangements, von denen man sich teilweise kaum vorstellen kann, dass sie so spontan entstanden sind.
„Kante plays Rhythmus Berlin“ ist eine Platte, der man anmerkt, wie gern und viel ihre Macher selber Musik hören, denn die Stilsicherheit, mit der sie sich durch verschiedenste Genres von Chanson über Country und Blues bis hin zur Rockballade bewegen, ist schlafwandlerisch. Die Leichtigkeit, die Kante bei den Aufnahmen zu „Die Tiere sind unruhig“ gelernt haben, haben sie beibehalten. Das Songwriting ist einfach und klar geworden; jeder macht, was er am besten kann. Im Chez Cherie Studio funktioniert dieses Prinzip besonders gut, denn wie Sebastian Vogel, der Drummer und Percussionist von Kante erzählt, liegen dort unzählige Instrumente herum, zu denen man einfach greift und die nun dem neuen Album seinen verspielten, aber auch durchkomponierten Sound geben. Das alles klingt ganz anders als im Friedrichstadtpalast, obwohl es zum großen Teil auf denselben Songs basiert. Die Texte auf der Platte sind leicht modifiziert, um auch außerhalb des Bühnenkontextes zu funktionieren. Aber immer geht es um die Stadt, nicht nur um Berlin, sondern um die Großstadt als Inbegriff von Gleichzeitigkeit: Neben der wirtschaftlichen und politischen Macht, die sich hier ballen und dem damit einhergehenden Reichtum, existieren Armut und Trash und immer eine Anonymität und Ungebundenheit, die für manche Menschen Verlorenheit bedeutet, für andere jedoch Freiheit.
Die Trackliste:
„Der Rhythmus einer großen Stadt“
Das ist der Prolog zur Revue und auch zum Album. Mit verschiedenen Percussioninstrumenten gespielte unterschiedliche Tempi finden an einem bestimmten Punkt zusammen, um gegen Ende wieder auseinanderzudriften. Dieses von György Ligetis „Poème Symphonique für 100 Metronome“ angeregte Stück vermittelt ein Gefühl für das Mit- und das Nebeneinander der vielen einzelnen Menschen, die jeden Tag über die Plätze Berlins strömen.
„Die Stadt verwischt die Spuren“
Ein bluesiges, sehr filmisches Stück, etwas düster, mit treibendem Tempo und filigranen Sounds im Hintergrund. Thiessen hat es für Helmut, der Hauptfigur aus „Rhythmus Berlin“ geschrieben, der sich in dieser Szene, kurz vor dem großen Finale der legendären Girlreihe mit 36 Tänzerinnen, entschließt, zum Kino zurückzukehren, in der Hoffnung, Katherine dort zu treffen. Wenn der korrespondierende Song von Katherine „Wer hierher kommt, will vor die Tür“, eine euphorische Hymne auf die Grosstadt ist, so beschreibt dieser Song eher die dunklen Seiten der Stadt, das auf- und abglimmen von Gesichtern und räumen. Eine interessante Mischung, bei der Kante sich für einen Moment zwischen Bob Dylan und Suicide bewegen.
„Du hältst das Fieber wach“
Eine waschechte Ballade, mit Besenschlagzeug, Herzschlagbeat und psychedelischen Gitarrenklängen. Eigentlich sollte Quentin Tarantino sich den Song schon mal für seinen nächsten Soundtrack sichern. Klingt rich & sexy und hat die Atmosphäre einer erotischen Traumsequenz.
„Trotz all der Zeit“
Leicht und charmant wie ein 60er-Jahre Chanson kommt dieser Lovesong einerseits daher, aber auch ein wenig schwermütig, denn die vollblütige Konzert-Gitarre bringt die Ernsthaftigkeit, die dem Text innewohnt, zum Klingen. Besungen wird, „dass wir trotz all der Zeit/ noch immer zwei Fremde sind“. Vielleicht ist das aber auch der Grund, warum zwei Menschen es überhaupt länger miteinander aushalten. Wunderschön.
„Die alten Gespenster“
Ein Spektakel! Hier ist besonders eindrucksvoll zu hören, welchen Spaß es den Jungs gemacht hat, sich im Studio auszutoben. Ein fast dreister Platschbeat, burleske Jahrmarktklänge irgendwo zwischen Beatles und Tom Waits, dazu Peters gegen Ende hin leicht hysterisch ausartender Gesang und ein Text, der ein absurdes Szenario beschreibt, in dem antike Statuen im Museum zu Leben erwachen und Gespenster in deinen Schränken nach alten Liebesbriefen wühlen. Superlustig!
„Ich schlag nicht mehr im selben Takt“
(seit ich dich gesehen hab…) Noch eine Ballade, auch hier kommt die spanische Gitarre zum Einsatz, dazu Kastagnetten und eine Melodica – ein richtiges Genrestück wie aus einem französischen Film. Zart und romantisch und sehr gekonnt ohne eine Spur von Kitsch.
„Wer hierher kommt will vor die Tür“
Eine rockige Nummer mit eingängigen Riffs, zu der Peter sagt: „Das ist der Hauptsong aus der Revue. Das sollte eine richtige Berlin-Hymne sein. Klar dachte ich erst: Und das soll ich als Hamburger machen? Aber dann dachte ich: Berlin ist nicht so sehr eine Stadt aus der man kommt, sondern eine, in die man geht. Leute kommen aus der Provinz und versuchen in Berlin ihre Phantasien von “Großstadt” zu finden, auszuleben, in Szene zu setzen. Stücken, die Berlin als “mein Zuhause”, “mein Kietz” etc. beschreiben, entgeht daher vielleicht das wesentliche: nämlich das Sich-hier-gar-nicht-wirklich-zuhause-fühlen, die Stadt als Zugezogener, Fremder erleben, Berlin als eine Stadt, deren Identität darin besteht, keine zu haben. Und um das zu beschreiben, ist vielleicht der Blick eines Hamburger Texters gar keine so schlechte Idee.“ Die erste Single des Albums.
„Die große alte neue Stadt“
Dieses von Kantegitarrist Felix Müller komponierte Lied ist ein wenig inspiriert von „Allein in einer großen Stadt“ von Franz Wachsmann, der unter anderem die Musik zum Blauen Engel schrieb.
Es ist ein wunderschöner Popsong, Steel Guitar und Tamburin sorgen für ein Countryflair, während die Mundharmonika an Bob Dylan erinnert und ein Xylophon dem Ganzen eine sehr eigene Note gibt.
Rhythmus Berlin
Die neue Revue im Friedrichstadtpalast
Premiere: 2. März 2007
Buch und Regie: Thomas Münstermann
Musik: Axel Goldbeck, Marc Schubring, Peter Thiessen
Kante “Kante plays Rhythmus Berlin”
VÖ: 09. März 2007 EMI Music Germany (Labels)
promo@labels
No Comment