Zurück in Berlin: Da sind die Liars also mal wieder zu Besuch in ihrer einstigen Wohnstätte. Und wie verbringen sie den Tag? Sie geben neun Stunden Interviews.
(Liars 2007)
Kaum wagt man es, dem Trio an diesem verschneiten Januarabend in Prenzlauer Berg mit noch mehr Fragen zu ihrem fünften Studioalbum “Sisterworld” zu kommen. Aber was muss, das muss. Und die drei smarten Herren, die auch im Jahr 2010 wieder mal ein atmosphärisch dicht gestricktes, angenehm durchgeknalltes Stück Dissonanz-/Experimental-Rock vorlegen, machen sich die Situation mit einer guten Portion Ironie und Unsinn so unterhaltsam wie möglich. Willkommen in der (Parallel-)Welt der Liars.
motor.de: Beginnen wir das Interview mit einem kleinen Assoziationsspiel. Jeder nennt einen Begriff, den er spontan mit Los Angeles verbindet.
Julian Gross: Verkehr.
Aaron Hemphill: Smog.
Angus Andrew: Sex.
motor.de: Und jetzt drei Dinge, die Ihr mit Berlin assoziiert.
Angus: Kälte.
Julian: Döner.
Aaron: Ärger – von meiner Frau, dafür, hier zu sein. Und Dunkelheit. Nein, Berlin ist eine tolle Stadt.
motor.de: Nachdem Ihr beim Songwriting für Euer letztes Album Ideen zwischen Berlin und Los Angeles hin- und hergeschickt habt, seid Ihr inzwischen alle wieder wohnhaft in L.A.. Habt Ihr die geographische Nähe genutzt, um die neuen Stücke zusammen zu entwickeln?
Angus: Ja, wir hatten die Möglichkeit uns näher zu sein, als je zuvor. Wir haben beieinander übernachtet.
motor.de: Oh, Pyjama-Parties?
Aaron: Ja, wir haben uns gegenseitig Nägel und Haare gemacht.
Angus: Manchmal haben wir auch Pyjamas getragen, aber nicht immer. Wir haben uns gegenseitig bekocht. Wir mögen Gartenarbeit und haben Tage im Garten des anderen verbracht und Unkraut gejätet.
motor.de: Das soll ich Euch glauben?
Angus: Klar! Aaron ist ein professioneller Rosenzüchter.
Julian: Er hat wirklich ein gutes Händchen für Rosen.
Aaron: Ich bin gut darin, Dinge mit Knospen anzubauen.
motor.de: Okay, noch mal anders gefragt: Wie gestaltete sich die Arbeit an “Sisterworld”?
Angus: Wir haben Ende 2008 nach dem Touren mit der Arbeit begonnen. Wir schreiben die Songs in der Regel getrennt voneinander bis sie fast fertig sind. Dann treffen wir uns und besprechen, ob ein Stück zu einer bestimmten Stimmung oder Idee passt. Wir haben uns dann mit dem Produzenten Tom Biller verabredet, der vorher an einigen Filmsoundtracks gearbeitet hat. Wir haben ihm erzählt, was wir uns vorstellen und dass wir ein paar Streicher und Bläser haben wollten. Er hat das dann organisiert.
motor.de: Im Pressetext heißt es, dass sich „Sisterworld“ mit der Subkultur L.A.’s beschäftigt, mit den alternativen Lebensräumen und Überlebenstechniken, die sich die Außenseiter dieser Stadt schaffen. Habt Ihr wieder ein Konzeptalbum gemacht?
Angus: Es gab einige Dinge, die uns interessierten und über die wir nachgedacht haben, aber das macht es aus unserer Sicht nicht zu einem Konzeptalbum. Es ist uns wichtig Platten aufzunehmen, die für uns ganzheitlich einen Sinn ergeben. Aber ich denke nicht, dass es für den Hörer zwingend notwendig ist unsere Intentionen zu kennen. Diese können sie hoffentlich von der Musik ableiten, von den Gefühlen, wie z.B. Unbehaglichkeit oder Beklommenheit, die sie bei ihnen auslöst. Wir fühlen uns allgemein etwas unwohl mit dem Begriff des Konzeptalbums, weil es dem Ganzen diesen unnötigen intellektuellen Anstrich gibt. Dabei geht es um ganz ursprüngliche Emotionen.
motor.de: Egal, welcher Thematiken oder Ideen Ihr Euch auf Euren Alben annehmt – die Atmosphäre, die die Musik ausstrahlt, hat fast immer etwas Bedrohliches, Verstörendes.
Angus: Das ist wohl einfach unsere natürliche Veranlagung. Wir stehen unserer Umgebung kritisch gegenüber und akzeptieren die Dinge nicht, wie sie sind. Vieles empfinden wir als schöngefärbt und oberflächlich.
motor.de: Ist eine Stadt wie Los Angeles dann nicht der falsche Wohnort?
Angus: L.A. ist beispielhaft für die Richtung, in die sich die Welt bewegt. Alle schauen gen Hollywood, um Inspiration zu finden. Unser Ziel ist es, die Realität offen zu legen.
motor.de: Was zieht Euch nach L.A.?
Angus: Es ist ein sehr spannender Ort, der sehr viele Facetten hat, die nicht weithin bekannt sind. Man hört immer nur über einen sehr kleinen Teil dessen, was L.A. ausmacht. Der wahre Charakter dieser Stadt lässt sich nur schwer fassen und definieren.
Aaron: Los Angeles ist offener und wilder als z.B. New York. Es hat mehr Geheimnisse, und es liegt an Dir, diese ausfindig zu machen.
motor.de: Um noch mal auf Eure Veranlagung zurückzukommen, düstere und beklemmende Platten aufzunehmen: Eigentlich seid Ihr ja eine durchaus amüsante Truppe, wie man z.B. Euren Videoclips entnehmen kann. Sind die Videos ein Ventil für Euren Humor?
Angus: Es gibt viele Möglichkeiten, den Humor rauszulassen. Auf diesem Album aber wollten wir todernst sein, völlig humorfrei.
Aaron: Es wird keine komischen kleinen Zeichnungen dazu geben.
Angus: Wir werden auch keinen schwulen Sex auf einem der Cover haben. Die Videos werden ebenfalls ernst und furchteinflößend sein. Zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach.
motor.de: Ihr habt als Vorbote für das Album kurze, geheimnisvolle Videoclips ins Internet gestellt. Steckt eine tiefere Bedeutung dahinter oder handelt es sich bloß um einen PR-Gag?
Julian: Es gibt eine tiefere Bedeutung, und ja, es ist ein PR-Gag.
motor.de: Kam das Label an und raunte etwas von „viralem Marketing“?
Angus: Das Label nicht, aber wir. Es ist Teil eines Projektes, das später noch weiter enthüllt wird.
motor.de: Ein anderer Teil des Projektes ist eine Remix-CD, die einer limitierten Auflage von „Sisterworld“ beiliegen wird. Darauf finden sich alternative Versionen Eurer neuen Stücke von Freunden der Band (u.a. Thom Yorke, Alan Vega, Devendra Banhart, Melvins).
Angus: Von Freunden und Feinden.
Julian: Manchen mussten wir mit Waffengewalt überzeugen. Wir haben Devendra die Pistole an den Kopf gehalten. „Mach den Song, Du kleiner Hippie!“
motor.de: Hippies können damit wohl kaum umgehen.
Julian: Genau. Wir brauchten eigentlich nicht mal eine Waffe. Es reicht schon, wenn man ihn mit einem Erdnussbutter-Sandwich bedroht.
motor.de: Habt Ihre einen Favoriten unter den Remixen?
Julian: Ich mag Bonos Version.
Aaron: Oder die von Karl Lagerfeld.
Nein, wir können schlecht sagen, dass wir eine Lieblingsversion haben, weil die Leute die Remixe für ein Butterbrot gemacht haben und wir sie nicht abwerten wollen. Aber um ehrlich zu sein: Ja, wir haben Favoriten.
motor.de: 2008 wart Ihr als Vorgruppe mit Radiohead auf Tour und habt auf Eurer MySpace-Seite Euren großen Respekt für die Band geäußert. Würdet Ihr Euch einen ähnlichen Status wie Radiohead wünschen?
Angus: Bloß nicht, ich würde mir die Pulsadern aufschneiden.
Julian: Warum sollte man sich wünschen, tun zu können, was man will und damit Geld zu verdienen?
Angus: Spaß beiseite: Natürlich fänden wir es toll, eine so aufregende Karriere wie die jungen Radiohead zu haben.
Aaron: Ich finde, sie haben ihren Status wirklich verdient. Viele Bands, von denen es heißt, sie würden Grenzen überschreiten, wagen wesentlich weniger als Radiohead.
motor.de: Kommen wir zum Abschluss noch zu einer anderen von Euch sehr geschätzten Gruppe: Blixa Bargeld hat in den frühen 80ern einmal gesagt, “die Einstürzenden Neubauten wollten den Begriff Musik ausweiten, bis es entweder keine Musik mehr gibt oder alles Musik geworden ist”. Findet Ihr Euch in einer solchen Aussage wieder?
Aaron: Wenn wir uns mit den Neubauten vergleichen würden, dann mit ihren jüngeren Alben, auf denen es mehr darum geht, die Grenzen traditioneller Strukturen zu erweitern, als völlig auf sie zu verzichten. Ich würde nicht sagen, dass wir je so experimentell waren wie die frühen Neubauten. Wir wollten immer einen gewissen Grad an Vertrautheit bewahren.
motor.de: Anfänglich ging es bei den Neubauten ja viel um das Ausloten der Grenzen zwischen Musik und Lärm bzw. Geräusch. Bei Euch würde ich in jedem Fall noch von Musik sprechen
Angus: Ich finde, dass es Musik ist, weiß aber nicht, ob meine Mutter der gleichen Meinung ist.
Aaron: Ich bin mit vielen Hardcore Noise-Künstlern befreundet, und wir haben ständig diese Diskussion. Sie behaupten von sich, keine Musik zu machen
Angus: Dann sollen sie sich eben Klang-Installateure nennen.
Aaron: Aber ich würde es Musik nennen. Das ist meine Haltung dazu, doch letztlich ist es alles subjektiv. Man könnte z.B. Abba als Krach bezeichnen. „Stell den Mist aus, das ist Krach, es macht mich wahnsinnig.“ Jeder hat hoffentlich seine eigene Definition dafür, und es wird nie eine Einigung geben.
Nina Töllner
Liars – Sisterworld
VÖ: 08.03.2010
Label: Mute Records
Trackliste:
01. Scissor
02. No Barrier Fun
03. Here Comes All The People
04. Drip
05. Scarecrows On A Killer Slant
06. I Still Can See An Outside World
07. Proud Evolution
08. Drop Dead
09. The Overachievers
10. Goodnight Everything
11. Too Much, Too Much
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